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Stella Maris

Autor

Cormac McCarthy

 

Inhalt 

27. Oktober 1972, Black River Falls, Wisconsin. Psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt.

Alicia Western, zwanzig Jahre alt, ist eine geniale junge Mathematikerin und virtuose Violinistin.  Sie leidet an paranoide Schizophrenie, die für sie zu einem manifesten Todeswunsch geworden ist. Mit einer Plastiktüte, gefüllt mit vierzigtausend Dollar in Hundertdollarscheinen, weist sie sich selbst in die Psychiatrie von Stella Maris ein. Alicia hat einen Bruder Bobby, über den sie aber sehr wenig spricht. In sieben Sitzungen philosophiert und kreisen Alicias Gedanken zwischen Physik, Mathematik, Musik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache, um Tod und Vergänglichkeit. Ihr Therapeut dringt mit Fragen tiefer und tiefer in ihre Persönlichkeit und erreicht selbst Grenzen, die sein Wissen überschreiten. Jede Sitzung, jedes Protokoll offenbaren ein Genie, das offenbar an sich selbst zweifelt und vergeblich die Erlösung sucht.

 

Stil und Sprache

„Stella Maris“ ist ein reiner Dialogroman, der auf Gesprächen von Alicia Western mit dem Psychiater Dr. Cohen in der psychiatrischen Klinik Stella Maris im Jahr 1972 basiert. Alicias Mutter starb, als sie zwölf war, Ihr Vater gehörte zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, die die Atombombe bauten. Ihr Bruder ist hirntot. (vgl. S. 76). Sie selbst leidet an einer paranoiden Schizophrenie, ist mathematisch genial, liebt Musik und hat einen Zwerg als Freund, den nur sie sehen und hören kann. McCarthy stellt mit seiner Figur Alicia eine psychisch kranke Frau in den Mittelpunkt, die hochbegabt über Mathematik, Physik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache auf einer mathematisch philosophischen Ebene nachdenkt. 

 

Zuweilen ist ihre Sprache eloquent, rotzig, frech und ironisch untermalt.

 

„Wenn man zwei Tomaten mit zwei Tomaten multipliziert, erhält man nicht vier Tomaten, sondern zwei Tomaten hoch zwei. Und was ist diese zwei? Ein unabhängiger mathematischer Operator. Aha. Und was ist das? Das wissen wir nicht.“ (S. 167)

 

Ihre Gedankengänge legen intellektuelle Brillanz, Wahnsinn und Weltfremdheit frei, die Grenzen des menschlichen Wissens übersteigen. 

 

„Wenn man sich diese Namen und das Werk, für das sie stehen, ansieht, wird einem klar, dass im Vergleich dazu die Annalen der modernen Literatur und Philosophie unbeschreiblich öde sind.“ (S. 83)

 

Alicia fehlt die Geige. Sie hat sie abgegeben, obwohl sie eine Stütze für sie war. 

 

„Eine Geige hat keine Vorläufer. Sie erscheint in all ihrer Perfektion einfach aus dem Nichts.“ (S. 151) 

 

Ein kleiner Mann aus dem fünfzehnten Jhd. fällte einen Ahorn und schnitt das Holz in dünne Bretter, ließ sie sieben Jahre trocknen und macht sich, nach einem Dankgebet an Gott, an die Arbeit. Das geht Alicia sehr nahe.

Philosophisch betrachtet sie das Universum. 

 

„Wenn es verschwände, würde nur die Musik bleiben. Ohne Regeln hat man nichts als Lärm. Wenn wir einen falschen Ton hören, zucken wir zusammen.“ (vgl. S. 123) 

 

Alicia berichtet von dem Zwerg, der nicht aus ihr „Traumlandschaft“ kommt, sondern aus ihrem „Zimmer“. Kann der Zwerg Alicia in den Abgrund treiben? Alicia definiert die Möglichkeit über eine Beziehung zu der Stimme einer Halluzination. 

 

„Die meisten Selbstmörder brauchen keine Stimme.“ (S. 128) 

 

McCarthy nimmt Bezug auf das Kekule Problem aus dem Jahr 2017, indem der Autor über die Beziehung zwischen Sprache und Unterbewusstsein nachdenkt.

 

Der Autor schreibt nicht nur exzellente Dialoge, sondern setzt zusätzlich Symbolik ein.

 

Der Ort des Romans ist die Heil- und Pflegeanstalt in Black River Falls, Wisconsin. Sie wurde 1902 als konfessionelle Pflegeanstalt gegründet. Seit 1950 ist sie nicht mehr konfessionell. Warum hat der Autor diese Pflegeanstalt genau in Black River Falls, Wisconsin gewählt? Black River Falls ist eine Kleinstadt und Verwaltungssitz des Jackson County im US-amerikanischen Bundesstaat Wisconsin. Auf den ersten Blick eine harmlose Kleinstadt in Nordamerika mit keinen besonderen Sehenswürdigkeiten. In den Jahren zwischen 1885 bis ca. 1900 überschatten merkwürdige Ereignisse die Stadt, die erschaudern lassen.

Ein Bauer köpft alle seine Hühner, brennt dann die Farm und den Hühnerstall nieder, weil er überzeugt ist, der Teufel wäre nach Black River Falls gekommen. Eine Frau ertränkt ihre drei Kinder an einem sonnigen Tag am Strand, während hilflose Passanten zusehen müssen. 

 

Und noch mehr solcher Taten, die allesamt absurd sind und keinen Sinn ergeben. Was verbirgt sich dahinter? Was verbirgt sich hinter der Fassade von Alicia?

 

Mathematik, Musik und Bach sind nicht zufällig gewählt. Musik und Mathematik passen hervorragend zusammen. Bei Bach zeigt sich, wie eng Mathematik und Musik miteinander verknüpft sind. B-A-C-H = 14 ist die Summe der Buchstaben. Man denke nur an die Rhythmik, die Intervalle, die unterschiedlichen Strukturen in Musikstücken, an den Instrumentenbau oder die verschiedenen Tonstrukturen. In der Musik lassen sich viele mathematische Inhalte aufzeigen. 

Die Zahl 14 lässt sich durch zwei teilen: ergibt sieben. Es finden sieben Sitzungen statt. Die Zahl sieben symbolisiert Geist und Seele einerseits sowie Körper, andererseits das Menschliche. Zufall bei Mc Carthy? Ich meine nein.

 

Symbolik haben auch die Namen der Protagonistin und ihrem Bruder Bobby. Alicia erzählt ihrem Therapeuten, dass ihr Vater sehr humorvoll war und er die Namen seiner Kinder aus dem akademischen Betrieb gewählt hat. Alicia und Bob sind Platzhalternamen für die Formulierung wissenschaftlicher Problemstellungen. Hinzu kommt, dass die Anfangsbuchstaben auf eine A- und B Theorie aus den 1960 Jahren verweist, die erstmals von Richard Gale geprägt wurde. Dabei geht es um die Frage der Zeit, die auf zwei verschiedene, aber verwandte Arten charakterisiert wird.   

 

„Mein Vater hatte Sinn für Humor. […] In der Wissenschaft sind Bob und Alice die Namen von zwei Figuren in bestimmten anekdotisch formulierten Fragen. […].“ (S. 34)

 

Vielleicht ist hier der Grundstein für die enge Beziehung zwischen Alicia und ihrem Bruder  Bobby zu finden.  Sie wollte ihn heiraten, sie liebt ihn, seit sie zwölf ist. Sie zweifelt nicht daran, dass auch er sie liebte. 

 

„Ich wusste, dass ich nur eine einzige Liebe und eine einzige Chance hatte. Und ich täuschte mich nicht in seinen Gefühlen. Das erkannte ich daran, wie er mich ansah.“ (S. 205) 

 

Der Höhepunkt ist ein Traum von Alicia. Sie träumt eine intime Beziehung mit ihm zu haben, sie erzählt ihm von diesem Traum und er antwortet, dass sie ihm so etwas nie wieder erzählen darf. Ist die Beziehung zu ihrem Bruder ein Traum oder Realität? 

Es bleibt eine Leerstelle, wie viele andere Situationen in diesen sieben Sitzungen. 

Die Themen Kunst, Musik und Mathematik nehmen in der philosophischen Betrachtung einen breiten Raum ein. Alicia erklärt die Vergeblichkeit der Mathematik und vergleicht sie mit der Musik. 

Musik und Kunst sind in ihrer vollendeten Form „mit Schmerz“ (vgl. S. 122) zu erreichen. Mathematik ist mühevolle Arbeit, ein langer Weg bis zur Erschöpfung. 

 

„Mathematik ist nichts als Schweiß und Mühsal. Ich wollte, sie wäre romantisch. Ist sie aber nicht. Im schlimmsten Fall gibt es hörbare Einflüsterungen. Es ist schwer, Schritt zu halten. Man wagt nicht zu schlafen, man war vielleicht schon zwei Tage wach, aber so ist das eben. Man trifft eine Entscheidung und stellt fest, dass einen zwei weitere Entscheidungen erwarten und dann vier und dann acht. Man muss sich zwingen, innezuhalten und zurückzugehen. Von vorn anzufangen. Man sucht nicht Schönheit, sondern Einfachheit. Die Schönheit kommt später. Wenn man ein Wrack ist.

Ist es das wert?

Wie nichts anderes auf der Welt.“ (S. 123)

 

Die siebte und letzte Sitzung nimmt das Thema Mathematik im Fokus Tod auf - die Todessehnsucht. 

 

"Über das Problem, Zugang zu der Welt zu finden, die man sich am meisten ersehnt.“ (S. 237) 

 

„Stella Maris" lässt offen, ob Alicia stirbt.

 

Fazit

„Stella Maris“ ist ein Werk das hauptsächlich aus philosophischen Überlegungen besteht. 

Die sieben Sitzungen gleichen einem Kammerspiel mit zwei Personen. Der Schwerpunkt liegt nur auf dem Gespräch, das versucht, hinter die Fassade von Alicia zu dringen. Oftmals hat der/die Leser:in das Gefühl, als ob eine dritte Person auf der Bühne steht: der Regisseur Cormac  McCarthy. „Stella Maris“ liest sich so, als ob Mc Carthy mit selbst über die Weltanschauung diskutiert.

McCarthy hat sich mit „Stella Maris“ und auch mit „Der Passagier“ (den habe ich allerdings nicht gelesen, ich baue meine Behauptung auf andere Rezensionen auf) fulminant zurückgemeldet. Er lässt seine Figuren genial über Mathematik, Physik, Philosophie, Kunst und um das Wesen der Sprache auf einer mathematisch philosophischen Ebene nachdenken. Ein Dialog über die Welt, über das Leben und den Tod. Cormac McCarthy ist 90 Jahre alt, vielleicht sein letzter Roman, sein Vermächtnis an uns.

 

Im letzten Gespräch zwischen Alicia und dem Therapeuten wird der Tod als letzter Schritt zum Glück empfunden:

 

„Ich glaube, unsere Zeit ist um.

Ich weiß. Halten Sie meine Hand.

Ihre Hand?

Ja. Das möchte ich.

Na gut. Warum?

Weil es das ist, was Menschen tun, wenn sie auf das Ende von etwas warten.“ (S. 239)

 

Ich lege diesen Roman zur Seite und weiß doch, dass ich ihn wieder hervorholen und lesen werde. Welche Erkenntnisse wird er mir dann geben?

 

 

 

 

 

Cormac McCarthy

Stella Maris

 

Übersetzer:  Dirk van Gunsteren

 

Rowohlt Verlag, Hamburg

Dezember 2022

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Dezember 2022, Buchvorstellung Cormac McCarthy, Stella Maris https://www.lesenueberall.com/stella-maris/

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