Marie von Thurn und Taxis schreibt in "Erinnerungen an Rainer Maria Rilke": "Ein Eckzimmer mit Fenstern nach 3 Seiten und einer kleinen versteckten Stiege, die zum Oratorium führte.... er hatte keine Nachbarn, da sich auf der einen Seite die Schloßkapelle, auf der anderen... der große Speisesaal befand, dessen langer steinerner Balkon aufs offene Meer blickte." (S. 11)

 

 

Die erste Elegie

 

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel 

Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme 

einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem 

stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts 

als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, 

und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, 

uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. 

Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf 

dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen 

wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, 

und die findigen Tiere merken es schon, 

daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind 

in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht 

irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich 

wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern 

und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, 

der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. 

O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum 

uns am Angesicht zehrt -, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, 

sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen 

mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? 

Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los. 

Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere 

zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel 

die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. 

 

Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche 

Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob 

sich eine Woge heran im Vergangenen, oder 

da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, 

gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. 

Aber bewältigtest du's? Warst du nicht immer 

noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles 

eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen, 

da doch die großen fremden Gedanken bei dir 

aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.) 

Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange 

noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl. 

Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du 

so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn 

immer von neuem die nie zu erreichende Preisung; 

denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm 

nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt. 

Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur 

in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, 

dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa 

denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen, 

dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel 

dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie? 

Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen 

fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend 

uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: 

wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung 

mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends. 

 

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur 

Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf 

aufhob vom Boden; sie aber knieten, 

Unmögliche, weiter und achtetens nicht: 

So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest 

die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre, 

die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. 

Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. 

Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen 

zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an? 

Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, 

wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa. 

Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts 

Anschein abtun, der ihrer Geister 

reine Bewegung manchmal ein wenig behindert. 

 

Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, 

kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, 

Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen 

nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; 

das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, 

nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen 

wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. 

Seltsam, die Wünsche nicht weiter zu wünschen. Seltsam, 

alles, was sich bezog, so lose im Raume 

flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam 

und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig 

Ewigkeit spürt. - Aber Lebendige machen 

alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. 

Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter 

Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung 

reißt durch beide Bereiche alle Alter 

immer mit sich und übertönt sie in beiden. 

 

Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten, 

man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten 

milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große 

Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft 

seliger Fortschritt entspringt -: könnten wir sein ohne sie? 

Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos 

wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang; 

daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling 

plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene 

Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.

 

Quelle:

Rilke, Rainer Maria, Die Gedichte, Insel Verlag Frankfurt Main und Leipzig 2006, S. 689.