Sonett

Durch mein Leben zittert ohne Klage,

ohne Seufzer ein tiefdunkles Weh.

Meiner Träume reiner Blütenschnee

Ist die Weihe meiner stillsten Tage.

 

Öfter aber kreuzt die große Frage

Meinen Pfad. Ich werde klein und geh

Kalt vorüber wie an einem See,

dessen Flut ich nicht zu messen wage.

 

Und dann sinkt ein Leid auf mich, so trübe

Wie das Grau glanzarmer Sommernächte,

die ein Stern durchflimmert dann und wann -:

 

Meine Hände tasten dann nach Liebe,

weil ich gerne Laute beten möchte, 

die mein heißer Mund nicht finden kann...

(Franz Xaver Kappus)

 

 

Aus Rainer Maria Rilkes Briefe an Franz Xaver Kappus, (S. 61)

Rom, am 14.Mai 1904