WINTERMORGEN

 

Der Wasserfall ist eingefroren,

die Dohlen hocken hart am Teich.

Mein schönes Lieb hat rote Ohren

und sinnt auf einen Schelmenstreich.

Die Sonne küsst uns, Traumverloren

schwimmt im Geäst ein Klang in Moll;

und wir gehn fürder, alle Poren

vom Kraftarom des Morgens voll.

 

Rainer Maria Rilke 1875 - 1926

Rainer Maria Rilke

Der Engel

Mit einem Neigen seiner Stirne weist

er weit von sich was einschränkt und verpflichtet;

denn durch sein Herz geht riesig aufgerichtet

das ewig Kommende das kreist.

Die tiefen Himmel stehn ihm voll Gestalten,

und jede kann ihm rufen: komm, erkenn -,

gib seinen leichten Händen nichts zu halten

aus deinem Lastenden. Sie kämen denn

bei Nacht zu dir, dich ringender zu prüfen,

und gingen wie Erzürnte durch das Haus

und griffen dich als ob sie dich erschüfen

und brächen dich aus deiner Form heraus.

Rainer Maria Rilke, 1919

 

Du Dunkelheit, aus der ich stamme

Du Dunkelheit, aus der ich stamme

ich liebe dich mehr als die Flamme,

welche die Welt begrenzt,

indem sie glänzt

mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -:

für irgend einen Kreis,

aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich:

Gestalten und Flammen, Tiere und mich, wie sie′s errafft,

Menschen und Mächte -

Und es kann sein: eine große Kraft

rührt sich in meiner Nachbarschaft.

Ich glaube an Nächte.

Die Kathedrale

In jenen kleinen Städten, wo herum

die alten Häuser wie ein Jahrmarkt hocken

der sie bemerkt hat plötzlich und, erschrocken,

die Buden zumacht und, ganz zu und stumm,

die Schreier still, die Trommel angehalten,

zu ihr hinaufhorcht aufgeregten Ohrs -:

dieweil sie ruhig immer in dem alten

Faltenmantel ihrer Contreforts

dasteht und von den Häusern gar nicht weiß:

in jenen kleinen Städten kannst du sehn,

wie sehr entwachsen ihrem Umgangskreis

die Kathedralen waren. Ihr Erstehn

ging über alles fort, so wie den Blick

des eignen Lebens viel zu große Nähe

fortwährend übersteigt, und als geschähe

nichts anderes; als wäre Das Geschick,

was sich in ihnen aufhäuft ohne Maßen,

versteinert und zum Dauernden bestimmt,

nicht Das, was unten in den dunkeln Straßen

vom Zufall irgendwelche Namen nimmt

und darin geht, wie Kinder Grün und Rot

und was der Krämer hat als Schürze tragen.

Da war Geburt in diesen Unterlagen,

und Kraft und Andrang war in diesem Ragen

und Liebe überall wie Wein und Brot,

und die Portale voller Liebesklagen.

Das Leben zögerte im Stundenschlagen,

und in den Türmen, welche voll Entsagen

auf einmal nicht mehr stiegen, war der Tod.

Bild:

Domenico Quaglio the Younger: The Cathedral of Reims

Aber die Winter! Oh diese heimliche

Einkehr der Erde. Da um dieToten

in dem reinen Rückfall der Säfte

Kühnheit sich sammelt,

künftiger Frühlinge Kühnheit.

Wo das Erdenken geschieht

unter der Starre; wo das von den grossen

Sommern abgetragene Grün

wieder zum neuen

Einfall wird und zum Spiegel des Vorgefühls;

wo die Farbe der Blumen

jenes Verweilen unserer Augen vergisst.

 

Rainer Maria Rilke , Werke ll , 182-184

 

Shawl, Wie, für die Jungfrau

 

 

Wie, für die Jungfrau, dem, der vor ihr kniet, die Namen 

zustürzen unerhört: Stern, Quelle, Rose, Haus, 

und wie er immer weiss, je mehr der Namen kamen, 

es reicht kein Name je für ihr Bedeuten aus - 

... so, während du sie siehst, die leichthin ausgespannte 

Mitte des Kaschmirshawls, die aus dem Blumensaum 

sich schwarz erneut und klärt in ihres Rahmens Kante 

und einen reinen Raum schafft für den Raum..: 

erfährst du dies: dass Namen sich an ihr 

endlos verschwenden: denn sie ist die Mitte. 

Wie es auch sei, das Muster unserer Schritte, 

um eine solche Leere wandeln wir. 

 

Rainer Maria Rilke, 1923

 

 

 

 

Es gibt so wunderweiße Nächte

Rainer Maria Rilke

 

Es gibt so wunderweiße Nächte,

drin alle Dinge Silber sind.

Da schimmert mancher Stern so lind,

als ob er fromme Hirten brächte

zu einem neuen Jesuskind.

Weit wie mit dichtem Diamantstaube

bestreut, erscheinen Flur und Flut,

und in die Herzen, traumgemut,

steigt ein kapellenloser Glaube,

der leise seine Wunder tut.

©Petra Gleibs
©Petra Gleibs

 

 

 

 

Herbsttag

 

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 


Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris

 

 

 

 

Herbst

 

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

 

(Rainer Maria Rilke, 1875-1926)