Briefe an Clara

Glauben an ein langes Jahr

Und nun wollen wir glauben an ein langes Jahr, das uns

gegeben ist, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge, voll nie getaner Arbeit, voll Aufgabe, Anspruch und Zumutung; und wollen sehen, daß wirs nehmen lernen, ohne allzuviel fallen zu lassen von dem, was es zu vergeben hat, an die, die Notwendiges, Ernstes und Großes von ihm verlangen.

 

Rainer Maria Rilke, Briefe. An seine Frau Clara am 1. Januar 1907

 

 

 

 

 

 

 


Paris

Am 17. Oktober schildert Rilke seiner Frau Clara den ersten schönen Morgen in Paris nach endlosen Regentagen in einer Art Prosagedicht.

Die Pariser Stadtkulisse wird dem Leser  als dynamisiertes Landschaftsbild präsentiert. 

 

Paris VIe,29, rue Cassette.

Am17.Oktober 1907

 

Aber der Morgen hell. Ein breiter Ostwind, der mit entwickelter Fronte her- einkommt über die Stadt, da er sie so geräumig findet. Gegenüber, westlich, angeweht, hinausgedrängt, Archipels von Wolken, Inselgruppen, grau wie die Halsfedern und die Brust von Wasservögeln in einem Ozean kalten Kaumblaus von zu entfernter Seligkeit. Und unter dem allem hin, niedrig, immer noch die Place de la Concorde und die Bäume der Champs-Elysées, schattig, von zu Grün vereinfachtem Schwarz, unter den Westwolken. Rechtshin helle Häuser sonnig angeweht, und ganz im Hintergrund in blauem Taubengrau  nochmals Häuser, in Plans geschlossen, mit steinbruchhaften, gradlinig abgesetzten Flächen. Und plötzlich, kommt man in die Nähe des Obelisken (um dessen Granit herum immer ein wenig blonder alter Wärme flimmert und in dessen Hieroglyphenhöhlungen:in der immer wieder vorkommenden Eule , altägyptisches Schattenblau sich hält, eigetrocknet wie in Farbenmuscheln), so fließt in kaum merklichem Gefälle die wunderbare Avenue auf einen zu, rasch und reich und wie ein Strom, der vor Zeiten mit seiner eigenen Gewaltsamkeit das Tor gebrochen hat in die Felsenwände des Arc de Triomphe dort hinten am Étoile. Und das alles liegt da mit der Generosität einer geborenen Landschaft und wirft Raum aus. Und von den Dächern, da und da, halten sich die Flag- gen immer höher hinauf in die hohe Luft, strecken sich, schlagen als flögen sie ab: da und da. 

 

Ausschnitt aus: Rainer Maria und Clara Rilke [Hrsg.]: Rainer Maria Rilke. Briefe über Cezanne,

Insel Verlag Wiesbaden, 1952. (S. 46 f.).

 

 


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