Der Panther [1]
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke, 1903
Entstehung des Gedichts
In den Jahren 1902/03 weilte Rilke in Paris, um eine Monografie über den französischen Bildhauer und Zeichner August Rodin zu verfassen. Er besuchte Rodin in seinem Atelier und bekam Einblick in dessen Schaffen.
„Aus der Bewunderung für die Arbeitsweise des Bildhauers und aus Gesprächen mit ihm gewann R. künstlerische Grundregeln,[…]“. [2]
Für Rilke war es nicht nur ein Aufenthalt in Paris, sondern auch ein Neuanfang in seinem Leben. Der Einfluss Rodin veranlasste Rilke, neue Wege seiner bisherigen Arbeit einzuschlagen.
Dinggedicht
Rainer Maria Rilkes „Der Panther“ entstand während seines Aufenthaltes in Paris. Sein Gedichtband „Neue Gedichte“ erschien 1907. Das vorliegende Gedicht „Der Panther“ gehört zu den bekanntesten Dinggedichten.
„Der Begriff Dinggedicht wurde 1926 von Kurt Oppert eingeführt. Der Terminus Dinggedicht steht im engen Zusammenhang zur bildenden Kunst. Als Beispiele zählen Eduard Mörikes Gedicht „Auf eine Lampe“ und auch C.F. Meyer „Der römische Brunnen“ zu den Dinggedichten. Bei Rilke schließlich sind „Römische Fontäne“, „Das Karussell“ und das perfekte Dinggedicht „Der Panther“ als exemplarische Vertreter der Gattung zu nennen.“ [3]
Die Besonderheit bei einem Dinggedicht liegt in der intensiven Betrachtungsweise auf ein Objekt des lyrischen Ichs. Das Objekt kann ein Gegenstand, Kunstwerk, Tier oder Pflanze sein. Es werden aber auch Situationen oder Vorgänge beschrieben. Bei der Beschreibung tritt das lyrische Ich in den Hintergrund, wodurch der Eindruck entsteht, als ob das „Ding“ selbst erzählt.
Die Aufgabe des lyrischen Ichs besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen Objekt und Subjekt herzustellen. Es holt etwas hervor, was bei oberflächlicher Betrachtung verborgen bliebe.
Die charakteristische Eigenschaft von Rilkes Dingdichtung findet sich im Gedicht „Der Panther“ wieder.
Inhalt
Rilke beschreibt in seinem Gedicht einen Panther in der Gefangenschaft im botanischen Garten Jardin des Plantes. Der Panther ist gefangen ohne Aussicht jemals in Freiheit leben zu können. Das Gedicht wird in drei Strophen aufgeteilt mit unterschiedlichen Attributen. Der Panther befindet sich hinter Gitterstäben. Die erste Strophe fokussiert das Auge des Panthers. Sein Dasein in der Gefangenschaft lässt erkennen, dass sein Blick müde geworden ist.
In der nächsten Strophe wird deutlich, nicht nur sein Blick leidet in der Gefangenschaft, auch sein Gang und seine Entschlusskraft haben Spuren hinterlassen, die wie eine Betäubung wirken. Seine Wahrnehmung, seine Aufmerksamkeit, Reflexion und Willen sind gebrochen, was die letzte Strophe verdeutlicht.
Interpretation
In der ersten Strophe liegt der Fokus auf dem Blick des Raubtieres, das nicht über seine Begrenzung des Käfigs hinausschauen vermag, denn die Stäbe verhindern die Sicht nach außen.
"Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt." Der Panther wird nicht direkt genannt, sondern durch das Personalpronomen „Sein“ ersetzt, das sich auf die Überschrift „Der Panther“ bezieht. Damit wird bereits am Anfang eine völlige Identitätslosigkeit offengelegt.
Sehr deutlich bringen die ersten beiden Verse die Passivität des Tieres in der Gefangenschaft zum Ausdruck. Der Blick des Tieres ist müde geworden. Seine stark beeinträchtigte Wahrnehmung lässt keine Unterscheidung mehr zu, ob es läuft oder ob die Stäbe an ihm vorbeilaufen. Die Bewegung der Stäbe wird mit „Vorübergehn“ angedeutet und damit personifiziert. Die Personifizierung der Stäbe drückt die Passivität des Panthers, die Unmöglichkeit des eigenen Eingreifens und den Verlust der Individualität aus. Dazu verlangsamt der Binnenreim „Stäbe gäbe“ das Lesetempo und verstärkt das Gefühl der Müdigkeit sowie das Fehlen von Dynamik. Sein Gefängnis wird bildlich sichtbar durch den Begriff „Stäbe“. Die Hyperbel „tausend Stäbe“ erzeugt in aller Deutlichkeit ein Bild der Aussichtslosigkeit des Tieres vor dem inneren Auge des Lesers, dass es keine Welt mehr hinter den Stäben erblicken kann. Es nimmt die Außenwelt nicht mehr wahr. Sein Leben findet nur noch im Käfig statt. Das Tier befindet sich in einer aussichtslosen Situation, aus der es mit eigener Kraft und Willen nicht mehr herausfinden kann.
Die zweite Strophe widmet sich der Charakterisierung seines Ganges. "Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht", ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.
Die Bewegungsform des Panthers wird beschrieben. “Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte” erweckt den Eindruck eines starken und kraftvollen Tieres, einer Raubkatze voller Stolz und Anmut. Besonders hervorgehoben wird der Eindruck eines starken Tiers von den Alliterationen: „Gang geschmeidig“ und „starker Schritte“.
Doch in der nachfolgenden Verszeile werden die Stärke, die Anmut und der Stolz des Panthers demontiert. Die Zeile beschreibt mit dem Superlativ „im allerkleinsten Kreise“, dass das Tier in seiner Bewegung stark eingeschränkt, gezwungenermaßen sich im Kreis dreht. Der Kontrast zwischen Freiheit und Eingesperrtsein wird überdeutlich sichtbar.
Seine Unbeweglichkeit in der Gefangenschaft wird mit den beiden nächsten Verszeilen „wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte/ in der betäubt ein großer Wille steht“ sichtbar.
Tanz bedeutet Lebensfreude und Beweglichkeit, doch beides kann in seiner Gefangenschaft nicht gelebt werden. Die Enge des Käfigs „betäubt“ das Potenzial seiner Kraft und schränkt seine Beweglichkeit auf einen kleinen Kreis ein. Sein Wille und seine Instinkte in der Gefangenschaft verkümmern von Tag zu Tag.
Die Mitte des engen Kreises bleibt leer. Diese Leere symbolisiert die innere Leere und Sinnlosigkeit eines Raubtieres, dass seine ursprünglichen, kraftvollen und vitalen Eigenschaften nicht leben kann und zur Ohnmacht gezwungen wird.
Der Fokus liegt auf das Auge des Tieres und seine eingeschränkte Wahrnehmung. "Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein".
Die dritte Strophe thematisiert erneut seinen müden Blick und seine eingeschränkte Wahrnehmung. Die Szenerie des ersten Verses der dritten Strophe gleicht einem Theaterstück: „Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille/sich lautlos auf –“. Die Metapher des Augenlids durch die Umschreibung "Vorhang der Pupille“ verdeutlicht, dass der Panther nur selten die Augen öffnet.
Der folgende Gedankenstrich und Punkt lassen innehalten und die Stille eindringlich wirken. Es scheint für einen kurzen Augenblick, als ob der Raubtierinstinkt des Tieres für kurze Zeit Erinnerungen an seine frühere Freiheit erwecken. Doch schnell sinkt es wieder in seine Teilnahmslosigkeit der völligen Passivität zurück. Der folgende nächste Vers „Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein“ wird durch einen weiteren Gedankenstrich unterbrochen, als ob das Auseinanderhalten der Stäbe geschlossen wird, nachdem das Bild in den Käfig eingedrungen ist.
Der letzte Vers, der kürzeste in diesem Gedicht von acht Silben, endet mit einer abrupt abbrechenden stumpfen Kadenz, als ob die innere Kraft des Panthers sich noch einmal erhebt und dann in sich einstürzt.
Stille!
Fazit
Im Gedicht „Der Panther“ kann man die Stärke des Tieres erahnen. Die bedrückende, ausweglose Lage des Panthers, eingeschlossen hinter den Stäben des Käfigs, dämpft die natürlichen Instinkte des Panthers. Man spürt, dass sein Wille aus der Gefangenschaft zu entfliehen gebrochen ist. Er hat sich seinem Schicksal ergeben.
„So schildert Rilkes Gedicht nicht nur einen Panther, sondern das gefährdete und gefangene Tier schlechthin und somit auch eine Phase in der Geschichte des zoologischen Gartens, ja der Beziehung des Menschen zum Tier.“ [4]
Die Sprache seines Gedichts gleicht der vollendeten Geschmeidigkeit eines Panthers. Der Leser wird zunächst gefesselt von der vollendeten Form. Doch am Ende bleibt die Erkenntnis: „hier die für das Los vieler Gefangener stellvertretende Qual eines gefangenen Tieres, dort die Ermordung unzähliger Menschen“. [5]
Rilke zeigt ein zerbrochenes Geschöpf, das auf engsten Raum dahinvegetiert ohne Hoffnung jemals wieder zurückkehren zu können in seine ursprüngliche Natur als Raubtier.
„Der Panther wird zum Symbol für alle Wesen, die ihrer Freiheit beraubt oder starken äußeren Zwängen ausgesetzt sind […]". [6]
Quellen
[1] Rilke, Rainer Maria, Die Gedichte, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2006, S. 447.
[2] Rilke Handbuch, Leben - Werk - Wirkung, Sonderausgabe, Herausgegeben von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach, Verlag J. B. Metzler Stuttgart, Weimar,© 2013 Springer-Verlag GmbH Deutschland, Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2013, S. 5.
[3] vgl. Wilpert, Gero, Sachwörterbuch der Literatur Alfred Kröner Verlag Stuttgart, S. 176 f..
[4] Leppmann, Wolfgang: Rilke. Sein Leben, Seine Welt, Sein Werk. 2 Auflage. Bern und München: Scherz 1993, S. 259.
[5] ebd.S. 259.
[6] http://www.niess.info/buch/pdf/12%20-%20Rilke/rilke_panther.pdf, S. 16, 10.12.2021.
Arbeit zitieren
Autorin Petra Gleibs, Dezember 2021, Buchvorstellung Rainer Maria Rilke, https://www.lesenueberall.com/rainer-maria-rilke/der-panther-im-jardin-des-plantes-paris/