Buchvorstellung

 

 

Eduard von Keyserling

 

Im stillen Winkel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Autor

Am 14.05.1855 wurde Eduard Heinrich Nikolas Graf von Keyserling auf Tels-Paddern in der russischen Ostseeprovinz Kurland geboren. 

Er war das siebte von zehn Kindern von Eduard Ernst Hermann Graf von Keyserling (1809) und seiner Frau Theophile, geb. v. Rummel (1816).

Nach dem Abitur 1875 begann er das Studium der Rechtswissenschaften. 1878 nahm er in Wien und Graz das Studium der Philosophie und Kunstgeschichte auf. 

 

Seine ersten Erzählungen Nur zwei Tränen und Mit vierzig Tagen Kündigung erschienen im Jahr 1882.

 

Besonders bekannt sind seine Schloßgeschichten, Beate und Mareile erschienen 1903, Fürstinnen erschienen 1917.

 

Die Erzählung Im stillen Winkel wurde 1918 veröffentlicht.

 

Eduard von Keyserling starb am 28.09.1918 in München.

 

Die letzten Lebensjahre verbrachte Keyserling erblindet und gelähmt in München. Insgesamt ist über Keyserlings Leben wenig bekannt. Nach seinem Tod wurden alle Aufzeichnungen und Dokumente gemäß seinem Testament von seiner Schwester Hedwig vernichtet.

 

Quelle: vgl. Zeittafel, in Eduard von Keyserling, Landpartie, Gesammelte Erzählungen, Schwabinger Ausgabe, Herausgegeben und kommentiert von Horst Launiger, Manesse Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 2018.

 

2. Inhalt

Schauplatz der titelgebenden Geschichte ist die Landvilla einer wohlhabenden Bankiersfamilie, in deren Mittelpunkt der elfjährige Sohn Paul steht.

Die Familie des Bankdirektors Bruno von der Ost verbringt wie immer den Sommer in der alten Villa am Rand des Dorfes im Gebirge. Bankdirektor Bruno von der Ost begleitet seine Gattin Irene und seinen kleinen Sohn Paul auf der Fahrt in der Eisenbahn zum Ferienort. Er hat dafür einen freien Tag genommen, um alles perfekt organisatorisch leiten zu können. Der junge Volontär Hugo von Wirden ist ebenfalls anwesend und verabschiedet die Familie mit den Worten, dass er bald nachkommen werde. Allerdings ist von Ost nicht sehr erfreut darüber, weil von Wirden seiner Frau ganz offensichtlich Avancen macht.

Bankdirektor von der Ost reist am nächsten Tag wieder ab, um zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukommen.

Für Paul ist alles sehr prachtvoll und erregend. Er selbst ist klein und schwächlich und wird daher „«der kleine Paul»“ genannt. Er beobachtet das Werben des leichtlebigen Bankvolontärs um seine Mutter mit Neugier und auch die Streitigkeiten seiner Eltern bleiben ihm nicht verborgen.

Dann erlebt Paul eine zusätzliche neue Ungemütlichkeit, die ihm bisher fremd war: Der Erste Weltkrieg bricht aus. Von Ost und von Wirden müssen dem Ruf ins Feld folgen.

 

3. Personen in der Erzählung

Die Personen in der Erzählung stehen sich fremd gegenüber, als ob jeder für sich alleine lebt. Die Welt der Familie ist patriarchal organisiert. Bankdirektor von der Ost ist es gewohnt, Befehle zu erteilen, denen sich alle unterzuordnen haben. 

Paul, sein Sohn, entspricht nicht seinen Anforderungen, was er ihn auch spüren lässt. Paul steht bei den Dorfkindern außen vor und wird nur als kleines „Würmchen“ wahrgenommen. 

 

Bruno Von Osts Frau Irene lebt ihr Leben fernab jeglicher Realität. Sie betrachtet das Werben von Wirden als eine willkommene Abwechslung.

 

Herr von Wirden macht Irene Komplimente und von Ost bezeichnet ihn als „Windhund“. Von Wirden vergleicht das nebeneinanderher-Leben mit einer Quadrille von Packträgern, die alle eine schwere Last tragen, aber diese nicht wahrnehmen wollen.

 

"Wissen Sie, wie mir unsre Gesellschaft zuweilen vorkommt: wie eine Quadrille von Packträgern; jeder hat seinen Koffer auf der Schulter, aber sie tanzen und verbeugen sich und tun so, als sähen sie gar nicht die schweren Koffer, die einem jeden von ihnen die Schultern zerdrücken." (S. 620)

 

Am meisten hat Paul zu tragen. Sein Plan, seinen Mut zu beweisen, nimmt ein fatales Ende.

 

   3.1 Paul

Paul, über elf Jahre alt, ist klein und schwächlich und wird «der kleine Paul» genannt. Sein rundes, kindliches Gesicht wirkt bleich. Seine grauen Augen werden hell wie Silber, wenn er sich erregt. Sein Kopf wirkt in seiner gesamten Erscheinung sehr groß, was durch seine dichten, krausen Haare besonders auffällt. 

Pauls Charakter zeichnet sich durch Nachdenklichkeit aus. Das Lernen fällt ihm leicht, doch seine Schulkameraden beachten ihn kaum, umso mehr bewundert er den Stärksten in seiner Klasse. 

Er wünscht ebenso stark zu sein, um seine Mutter beschützen zu können vor seinem herrschsüchtigen Vater. Er träumt davon, mit ihr gemeinsam zu fliehen. 

 

„Seine Mutter und er liefen und liefen eine gelbe Landstraße entlang, bis sie in den Nebeln des Traumes verschwanden.“ (vgl. S. 611)

 

Paul bekommt viele Streitereien seiner Eltern mit. Er bemerkt wie rau und hart sein Vater, seiner Meinung nach, mit seiner Mutter umgeht. Außerhalb des Hauses erfährt er selbst  Demütigungen durch zwei robuste Kinder, „Major Welkers Sohn Lulu und seine unzertrennliche Gefährtin Nandl, der Tochter des Kirchbauern.“ (vgl. 613)

 

Paul wird von Lulu und Nandl nicht ernst genommen. Sie nennen ihn „Würmchen“. Lulu, in seinem Alter, und Nandl sind seine Feinde. Lulu ist ihm weit überlegen, Nandl lacht immer ein  wenig schrill und herzhaft. Beide verhöhnen und kränken ihn, wenn sie ihn sehen. Sie finden ihn dumm. Trotzdem bewundert Paul sie und denkt darüber nach, was er tun könnte, um von ihnen Bewunderung zu bekommen. Dann erfährt er von ihnen, dass Krieg ausgebrochen ist. 

 

   3.2 Bankdirektor Bruno von der Ost

Bruno von der Osts äußere Erscheinung wird aus der Sicht von Paul, seinem Sohn, beschrieben. Seine hohe breitschultrige Gestalt wirkt durch stahlblaue Augen hinter blanken Brillengläsern und einen blonden Schnurrbart besonders stark und prachtvoll. Seine hohe Stirn mit zwei aufrechten Fältchen, die gerade Nase, das mächtige Kinn und die Haare an den Schläfen, die schon leicht ergraut sind, zeigen seine Entschlossenheit. Unterstrichen wird sein kraftvolles Auftreten durch die schnarrende und befehlende Stimme. 

Der Vater wird als sehr geordneter, pedantischer Mann geschildert. Er ist ein grosses organisatorisches Talent und liebt es, diese Eigenschaft auch in den kleinen Angelegenheiten des Hauses und der Familie zu zeigen. Er steht mitten in der Bahnhofshalle zwischen Kisten und Gepäck und erteilt kurze Befehle. 

 

„«Alles», pflegte er zu sagen, «auch das Geringste, muss vernunftgemäß durchgeführt werden.»“ (S. 603)

 

Als Vorstand der Familie regelt er selbstverständlich alles Finanzielle. Es ist das Jahr 1914, kurz vor Kriegsausbruch. Die Preise der Lebensmittel steigen, es ist nicht zu leugnen, „dass die Preise mit jedem Jahr in die Höhe gingen“. Direktor Ost nahm es als nicht änderbar hin und kalkulierte die Mehrausgaben in sein Familienbudget mit ein. Aber seine Frau gab als Einwand an, dass das Budget auch in diesem Jahr nicht ausreichen würde, trotz seiner Berechnungen. Für von Ost liegt das lediglich an seiner Frau, die nicht rechnen kann.

 

„«Es ist schade, dass, als wir uns verlobten, ich nicht bei dir ein Examen im Rechnen abgelegt habe.»“ (S. 610)

 

Bruno von Ost hat kein Verständnis für eine derartige „weibliche“ Erklärung. Er wird ärgerlicher und setzt das Gespräch fort und bedeutet für ihn einen Widerwillen gegen Zahlen. 

 

„Dein Widerwille gegen Zahlen, also gegen Ordnung und Klarheit, ist mir unbegreiflich, denn

Zahlen sind Ordnung und Klarheit. Sie sind unser geistiges Gewissen, unsere geistige Reinlichkeit. Wenn ich meine Verhältnisse zahlenmäßig überblicken kann, dann habe ich einen Boden unter den Füssen.“ (S. 610)

 

Seine Frau ist in Tränen aufgelöst, was als ein Zeichen der Schwäche gedeutet wird. Doch am nächsten Tag singt sie, als sie ordnend durch das Haus geht. 

 

„Paul horchte auf, das klang nicht traurig, das war ein helles, leichtherziges Geträller.“ (S. 611)

 

   3.3. Irene

„Paul beobachtet während der Eisenbahnfahrt seine Mutter. Die Mutter hat ein schmales, schönes Gesicht. Unter ihrem gelben Sommerhut stahlen blonde Löckchen über die Stirn hervor. Ihre geschlossenen Lippen bogen sich in sehr feine rote Striche ein wenig nach oben. Ihre grauen Augen waren blank und ihr sonst blassen Wangen gerötet.“ (vgl. S. 604 f.) 

 

Sie kann sich nur schwer gegen ihren Mann, einen herrischen Pedanten auflehnen, der sie wegen nicht ordnungsgemäßer Führung des Haushaltsbuches schikaniert. (siehe Kapitel 3.2)

 

„«Du wusstest ja, wie ich bin», begann Irene von der Ost wieder, und ihre Stimme zitterte. «Du wusstest, dass ich keine Rechenmaschine bin.»“ (S. 610)

 

Ihre Aussage steht in einem Kontrast zu den Prinzipien ihres Mannes, für den Zahlen „Ordnung und Klarheit“ bedeuten. Frau von der Ost ist die immerwährende Korrektheit des Bankdirektors zuwider, der sich durch Logik und Verstand auszeichnet und für Gefühle und Tränen kein Verständnis zeigt.

Sie fühlt sich zu Hugo von Wirden hingezogen, der im Gegensatz zu ihrem Mann die Lebensauffassung vertritt, dass zwar Abrechnungen zuweilen „stimmen“, aber nicht das Leben, „wo es aufhört zu stimmen, da fängt das Leben an.“ (S. 632)

Doch die Beziehung zu von Wirden nimmt ein plötzliches Ende, als Bruno von der Ost im Krieg fällt. Schlagartig übernimmt sie die Lebensprinzipien ihres Mannes. Noch am gleichen Abend, nachdem die Todesnachricht überbracht wurde, entscheidet sie die Tagesabrechnung abzuschließen mit der Begründung: 

 

„«Er wollte das immer. Er sagte ‹Zahlen sind die Reinlichkeit des Lebens.›»“ (S. 640)

 

Ihr Verhalten nach dem Tod ihres Mannes entspricht den Erwartungen einer trauernden Witwe. Sie spricht jetzt von ihm, wie „gut“ und „edel“ er gewesen war, und vermittelt ihrem Sohn, dass sein Vater ein Held sei. 

 

„Jeden Tag saß Frau Irene vor dem Bild ihres Mannes, sie nahm Paul zu sich und sprach mit ihm von seinem Vater, wie gut und edel er gewesen sei, und sie ermahnte Paul zu werden wie er, so gut und edel.“ (S. 643)

 

   3.4 Bankvolontär Hugo von Wirden

Hugo von Wirden steht unter besonderer Aufsicht von Bankdirektor von Ost. 

 

„Der junge Mann war leichtsinnig gewesen und sollte in der Bank wieder ein ordentlicher Mensch werden.“ (S. 604) 

 

„Aus seinem hübschen Gesicht strahlten lustige, braune Augen. Sein Mund war breit und rot. Paul befand, dass er ein hübsches, unartiges Gesicht habe. Er glaubt zu bemerken, dass seine Mutter viel fröhlicher war, wenn der junge Hugo von Wirden zu Besuch kam.“ (vgl. S. 604) 

 

Herr von Ost ist nicht begeistert von seinen Besuchen und merkt an, dass er ein „Windhund“ sei. 

Irene von der Ost schwärmt für den jungen Volontär.

Als Herr von der Ost mitbekommt, dass Hugo von Wirden seine Frau besucht hat, macht er ihr eine Szene.  

 

„«Gut, gut ich leugne es nicht, ich bin gekommen, weil ich wusste, dass er da sei. Du findest es lächerlich - vielleicht ist es lächerlich, aber wer ist daran schuld, dass ich etwas Lächerliches tue? Du, du ganz allein!»“ (S. 622)

 

Die Eltern streiten nachts während eines Gewitters so laut, dass Paul diese Eifersuchtsszene mitbekommt. Paul selbst mag Herrn von Wirden sehr gern. Wenn er anwesend ist, wird die Atmosphäre gemütlicher und lustiger, als wenn sein Vater zu Hause ist. Er glaubt, dass seine Mutter ebensolche Gefühle hegt. 

 

4. Der Krieg

Paul fragt ängstlich, ob es Krieg gibt. Die Antwort seiner Mutter läßt den Krieg als eine notwendige Begebenheit erscheinen, der nur dazu dient, für „Deutschland als gemeinsame Mutter“ zu kämpfen.

 

„«Wenn deiner Mutter, wenn einer mir etwas zu leide täte, das würdest du auch nicht dulden.»“ (S. 626)

 

Lulu und Nandl berichten ihm ebenfalls ausführlich von dem bevorstehenden Krieg. 

 

„«Krieg?», wiederholte Paul.

«Ja, Krieg, einen ganz verdammten Krieg, ein Krieg mit allen, mit Russen und Franzosen und Serben, — na, und die andern kommen auch schon, das wird fein!»“ (S. 624)

 

Paul ist fest entschlossen etwas zu unternehmen, damit der Krieg nicht ins Land kommt. 

 

„Doch er wird ausgelacht und als Würmchen bezeichnet, der sich hinter seiner Kinderfrau versteckt und nichts tun wird.“ (vgl. S. 624)

 

Der Krieg erreicht Pauls Zuhause, seinen vermeintlichen „Stillen Winkel“. Sein Vater und Herr von Wirden müssen ins Feld. Bruno von der Ost kommt aufs Land, um von seiner Familie Abschied zu nehmen. Er sieht in der Uniform stattlich aus, ist angeregt und feierlich. Diesmal bewundert Paul ihn. Und als der Vater von seinem Sohn Abschied nimmt und seine Augen feucht werden, beginnt auch Paul zu weinen. Er ist froh, dass er weinen kann, denn er weiss, dass es von ihm erwartet wird.

Die Realität des Krieges löst bei Paul eine Veränderung aus, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die Nachricht, dass sein Vater im Krieg gefallen ist, ließ ihn endgültig dazu  bewegen sein Vorhaben umzusetzen. Er hat das Gefühl, als ob der Vater nun mehr als je die ganze Welt beherrsche. Da kommt er auf den Gedanken, wenn er sterbe, dann würde sein Bild neben dasjenige des Vaters hingestellt, und dass auch er dann ein Held wäre. Diese Gedanken verleiten ihn dazu, in den Wald zu gehen und ein Spiel des Fallens zu spielen, genauso wie draußen die Soldaten. Paul macht sich auf den Weg zum Feind. Im Bergwald gerät er in ein Gewitter. Ein fürchterlicher Blitz schlägt in unmittelbarer Nähe ein. Paul stirbt an den Folgen wenig später in der Villa.

 

5. Sprache und Stil

Paul steht im Vordergrund der Erzählung und es wird aus der Perspektive Pauls erzählt. Obwohl der Erzähler sich immer in der Nähe von Paul befindet, ist er trotzdem ein unzuverlässiger, nicht allwissender Erzähler, denn Paul bekommt nicht alles mit.

 

Pauls Eltern streiten sich als er dabei ist. Doch plötzlich wird er von seinem Vater ins Bett geschickt. 

 

„Doch plötzlich hielt er inne, sah Paul scharf an und sagte: «Warum bist du nicht im Bette? Längst solltest du im Bett sei.»“ (S. 610)

 

Am nächsten Tag wundert sich Paul, warum seine Mutter wieder so fröhlich ist, obwohl sie doch am Abend vorher sehr traurig war. 

 

„Dann war also das Schreckliche von gestern Abend vorüber, dann war es nichts gewesen. Paul verstand nicht. Diese der erwachsenen Leute wurden ihm immer unbegreiflicher.“ (S. 611)

 

Eduard von Keyserling erzeugt mit dieser Erzähltechnik einen Einblick in die Psyche eines Kindes, dass einerseits die Disharmonie der Erwachsenen und später den Krieg nur schwer erfassen kann. Er beschreibt den Krieg in seiner Erbarmungslosigkeit, ohne den Schauplatz der nach außen hin vermeintlich gesicherten Welt zu verlassen, was eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität entstehen lässt.

Er nutzt in seiner Erzählung Metaphern, die Kriegsbegriffen gleichkommen. Schon zu Beginn koordiniert der Vater die Abfahrt seiner Familie. Es macht ihm Freude, „kurze Befehle“ an Träger zu erteilen. Seine Stimme hat dabei einen schnarrenden, befehlenden Ton. Selbst sein Äußeres zeigt militärische, prachtvolle Attribute wie „hohe breitschultrige Gestalt, der sachte im Wind flatternde Schnurrbart und die graublauen Augen hinter den blanken Brillengläsern.“

Für Paul ist sein Vater ein Idealbild, dass er nie erreichen wird. Er selbst wird nur als „klein und schwächlich“ wahrgenommen und wird nur „der kleine Paul“ genannt. Der Mann ist der Held, der sich im Aussehen seiner äußeren Erscheinung und seiner vollständigen Kraft auszeichnet. Die Zeit der Männlichkeit, des Heldentums lässt keinen Spielraum für ein Kind der Fantasie, der Nachdenklichkeit.  

 

Der Höhepunkt der Kriegsrhetorik wird eindringlich am Schluss gezeigt. Wie eine Schlacht lässt Eduard von Keyserling seine Figur Paul den Krieg erleben. 

 

„Die Dunkelheit nahm zu, der Regen strömte jetzt nieder, und es schien Paul, als sei der ganze Wald jetzt feindlich.“ (S. 650 f.)

 

Eduard von Keyserling schildert ein Naturschauspiel, das einem Kriegsschauplatz gleichkommt. 

 

„Der Donner grollte in der Ferne, lauter, Blitze ließen den Wald in ein blaues Licht tauchen, ein starker Strom erhob sich heulen und ächzend. Ein schrilles Pfeifen durchzog die Luft, es folgten eine grelle, zitternde Helligkeit. Paul nahm dunkle vermummte Gestalten wahr, wie im Dorf die Männer, die in dunklen Ecken standen. Die Gesichter grau und regungslos. Ein gewaltiger Donnerschlag, der alles übertönte, bereitet dem Schauspiel ein Ende.“ (Vgl. S. 651)

 

Paul sah eine „große, entlaubte Eiche im blauen Licht stehen und zittern.“ (S. 651)

 

In Pauls Fantasie erscheint Herr von Wirden und lobt seinen Mut. Die Feinde „liefen heran und fielen um.“ Doch Paul benötigte keine Waffen. 

 

Eduard von Keyserling lässt seine Figur Paul singen:

 

„«Es braust ein Ruf wie Donnerhall,

wie Schwertgeklirr und Wogenprall.»“ (S. 652)

 

Er spielt damit auf die Rheinkrise von 1840 an, als Frankreich das Ziel verfolgte, den Rhein als „Natürliche Grenze“ zu etablieren. Diese Gebietsansprüche wurden im Ersten Weltkrieg wieder aufgenommen.

 

„Am 11. November 1914 war dann durch die oberste Heeresleitung verlautbart worden, «junge Regimenter» hätten es bei einem Sturmangriff auf französische Stellungen nahe Langemark gesungen.“ (S. 710)

 

Das Lied gleicht einem letzten Aufbäumen gegen einen übermächtigen Feind, ein Versuch die eigene innerliche Angst zu überwinden und seine letzte Kraft in Mut zu beweisen.

 

„Pauls Entschlossenheit, den „Feind“ zu besiegen, nahm ab, je näher das drohende Unwetter kam und er tiefer ins Unterholz geriet. Plötzlich war die Natur nicht mehr freundlich. Es blitzte, donnerte, regnete. Paul wusste keinen Ausweg mehr. Er hatte Angst, zitterte vor Kälte und. weinte. So geschwächt fand ihn Herr von Wirden, der ihn schließlich nach Hause brachte.“ 

(vgl. 650 f) 

 

Paul versucht die Rolle eines Soldaten zu übernehmen. Doch nur scheinbar erreicht er sein Ziel es seinem Vater gleichzutun. Seine kindliche Mutprobe übersteigt seine Kraft. 

 

Paul stirbt einen unheroischen Tod, den Eduard von Keyserling mit den Worten enden lässt:

 

"Ein neuer Sieg war gemeldet worden.“ (S. 53)

 

Der Krieg ist nicht mehr distanziert in weiter Ferne zu beobachten, sondern in der Realität der Gesellschaft angekommen.

 

6.  Fazit

Die Familie zieht sich in den Sommermonaten auf das Land zurück und kann trotzdem der Wirklichkeit nicht entgehen. Es ist der Beginn des Ersten Weltkrieges. Zunächst freut sich die Familie, auf dem Land zu sein. Für Paul bedeutet es, einen sicheren Zufluchtsort zu haben, fernab der Schule mit den alltäglichen Kämpfen. Doch nun fühlt er sich auch hier in seinem “stillen Winkel“ bedroht. Auch seine Mutter Irene, die bisher fernab von der Realität der Außenwelt gut behütet lebte, muss sich umstellen. Der Tod ihres Mannes bricht in ihre unbeschwerte Lebensweise ein und sie muss sich der Realität stellen. Sie übernimmt die ihr bisher fremden Lebensprinzipien und verhassten Aufgaben ihres Mannes. 

 

„«Ich muss noch die Tagesabrechnung abschließen»“ […] «Er wollte das immer. Er sagte: ›Zahlen sind die Reinlichkeit des Lebens.‹»“ (S. 640)

 

Eduard von Keyserling nimmt in seiner Erzählung „Im stillen Winkel“ die Kriegsthematik auf, aber aus einen distanzierten Blickwinkel. Er beschreibt nicht das direkte Kriegsgeschehen, sondern aus der Position eines Beobachters auf der gesellschaftlichen Ebene. Und auch hier teilt er seinen Blickwinkel in die Welt der Erwachsenen und die Welt des Kindes, Paul. Das ruhige, beschauliche und auch höchst geordnete Leben der Gesellschaft gerät durch den Ausbruch des Krieges in eine bisher noch nicht gekannte bedrohliche Situation. Mit dem Soldatentod von Bruno von der Ost geschieht eine radikale Abkehr von dem bisher geführten Leben, was sich im Verhalten von Irene widerspiegelt. Sie nimmt nicht nur die korrekten Eigenschaften ihres Mannes an, sondern gibt auch die Freundschaft zu Hugo von Wirden auf. 

Auf der Ebene von Paul beschreibt Keyserling den Krieg und damit verbunden der Wunsch nach Heldentum aus der naiven Sichtweise von Paul. Paul möchte genauso geehrt werden wie sein nach Vater nach dessen ehrenhaftem Tod im Feld. Er will beweisen, dass er mutig ist und begibt sich auf seinen Weg. 

 

„Sein Weg war klar vor ihm.“ (S. 649)

 

Eduard von Keyserling lässt in Pauls Fantasie den Krieg bildlich und mit Metaphern entstehen. Erst hier wird die volle Wucht des Krieges durchsichtig. (siehe Kapitel 5)

Auch Paul „fällt“ und stirbt. 

Lulu und Nandl bemerken nur: „«Das konnte er doch - sterben.»“ (S. 653)

 

Zurück bleibt Frau Irene. Sie hat nicht nur ihren Mann im Krieg verloren, sondern auch ihren Sohn. Sie steht am Grabe ihres Sohnes „als eine einsame schwarze Gestalt.“ (S. 653) 

 

7. Quelle

Eduard von Keyserling, Landpartie, Gesammelte Erzählungen, Schwabinger Ausgabe, Herausgegeben und kommentiert von Horst Launiger, Manesse Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 2018.

 

Zitiert wird nach dieser Ausgabe in Klammern gesetzte Seitenzahlen. 

 

 

Arbeit zitieren

Petra Gleibs, Autor, September 2021, Buchvorstellung Eduard Keyserling, Im Stillen Winkel, https://www.lesenueberall.com/eduard-von-keyserling/