· 

Doppelleben

Autor

Alain Claude Sulzer 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. 

1983 erschien sein Debütroman „Das Erwachsenengerüst“. Mit dem Roman „Ein perfekter Kellner“ gelang ihm 2004 sein literarischer Durchbruch. 

Seine Werke wurden unter anderem mit dem Prix Médicis étranger und dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet.

 

Inhalt 

 

Das Publikum liebt unwahre Bücher:

Dieser Roman ist ein wahrer Roman.

Edmond und Jules de Goncourt

 

 

Der Prix Goncourt, der alljährlich seit 1903 im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman vergeben wird, gilt als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs. 

Benannt wurde der Preis nach den Schriftsteller-Brüdern Edmond (1822 -1896) und Jules (1830 -1870) de Goncourt. 

 

Die Brüder Goncourt leben zwillingsgleich und eigenbrötlerisch zusammen. Sie teilen das Haus, die Gedanken, die Arbeit und die Geliebte. Ihr Umgang sind Künstler im Palais der Cousine des Kaisers, in Ausstellungen und bei Restauranttreffen. Sie verkehren mit Flaubert und Zola. Sie beobachten alles genau, lästern gerne danach über die, die sie gerade getroffen haben und schreiben alles akribisch in ein Tagebuch, das sie gemeinsam führen. Ihren Blick entgeht nichts.

Doch Jules ist krank. Er ist an Syphilis erkrankt, aber weder er noch sein Bruder sprechen diese  Krankheit offen an. 

 

„An den Namen der Prostituierten, die ihn im zarten Alter von zwanzig Jahren angesteckt hatte, erinnerte Jules sich natürlich nicht.“ 

(S. 39)

 

Zu ihrem Haushalt gehört Rosalie Malingre, genannt Rose, die 1837 im Alter von siebzehn Jahren in Madame Goncourts Dienste tritt. 

Rose führt den Haushalt, umsorgt und bewacht die beiden Brüder, „knurrend […] wie ein alter Kettenhund“ (S. 92). Ihre mangelhaften Kochkünste nehmen sie geduldig hin. 

 

„Sie war so diskret wie ein Tisch oder ein Schrank, sie gehörte so unverrückbar zu ihnen und ihrer Wohnung wie ein Möbelstück oder eine Tür, die man täglich unzählige Male öffnete und schloss, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum man es tat und ob es nötig war, es zu tun.“ (S. 91)

 

Ihr Leben außerhalb des Hausstandes bleibt den Brüdern verborgen. Rose führt ein Doppelleben anderer Art als die Brüder. Sie gerät an falsche Männer, ist verliebt, ohne dass ihre Liebe erwidert wird. Sie wird schwanger, ihr Kind stirbt später. Sie trinkt. Aus Angst, den Geliebten zu verlieren, betrügt sie die Brüder. Erst nach ihrem Tod wird ihr dramatisches Doppelleben offenkundig.

 

Sprache und Stil

Der Roman „Doppelleben“ besteht aus zwei Erzählsträngen. Die Geschichte der zwillingsgleich lebenden Brüder Jules und Edmond de Goncourt. Nach dem Tod ihre Mutter erben sie ein großes Vermögen, das ihnen ein unabhängiges Leben ermöglicht. Sie führen ein Bohèmeleben und widmen sich ganz der Schriftstellerei. Ab 1851 führen sie gemeinsam ein Tagebuch. Sie sind scharfe Beobachter und alles, was von ihnen wahrgenommen wird, schreiben sie akribisch auf. Kein Skandal und keine Intimität der Pariser Bohème bleibt außen vor. Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Tagebuch erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht werden darf. Für Alain Claude Sulzer stehen mit diesem Tagebuch unendlich viele nachweisbare Aussagen für seinen Roman zur Verfügung. 

 

Fast alles, was ich an Szenen und Gedanken in diesen Roman hineingearbeitet habe, ist belegbar. Originalzitate findet man dennoch nur aufgelöst im Ganzen. Ich habe sie mir angeeignet und umgeformt. 

Quelle: Zitat Alain Claude Sulzer in https://www.galiani.de/sulzer-doppelleben, 06.10.2022

 

Die parallele Erzählung handelt von Rose, ihrer Haushälterin, die heimliche Protagonistin in diesem Roman. Rose kennen beide Brüder, als sie noch Kinder waren. Sie wird von ihnen kaum wahrgenommen. Erst nach ihrem Tod erfahren sie von einer ehemaligen Geliebten die Wahrheit über ihre Hausangestellte. Sie hat beide Brüder bestohlen und betrogen, um ihren Geliebten zu unterstützen, aus Angst, ihn zu verlieren. Sie ist ihm völlig hoffnungslos ergeben. Zunächst sind sie fassungslos, dann schlägt ihre Fassungslosigkeit in Mitleid um. 

 

„Sie hatten von alledem nichts gesehen, nichts bemerkt, nicht ihre Schwangerschaft, nicht ihre Freude, nicht ihre Trauer, nicht ihr Leid. Schon gar nicht ihre nymphomanischen Neigungen, von denen sie später erfuhren.“ (S. 213)

 

1865 erschien der Roman „Germaine Lacerteux“, in dem sie die Geschichte ihres Dienstmädchen erzählen und vielleicht auch ihre Unachtsamkeit ihr gegenüber verarbeiten. 

 

„Germaine Lacerteux“ dient dem Autor als zweite historisch nachweisbare Lektüre für seinen Roman „Doppelleben“. 

Der Roman „Doppelleben“ besticht durch eine ruhige, der Zeit entsprechend angemessenen Sprache. Der zeitpolitische Kontext und das gesellschaftliche Umfeld werden mit den beiden Erzählungen, die Brüder Jules und Edmond Goncourt und die dramatische Existenz der Magd Rose zu einem authentischen Roman zusammengefügt. 

 

Tief taucht der Autor in das Zentrum von Paris zur Zeit Napoleons III. ein. Hautnah erlebt der/die Leser*in die Hauptstadt der Künste, wenn auch nur ausschnittsweise. Der Fokus liegt auf das Leben von Rose und ihren Tod und Jules letzte Lebensjahre vor seinem Tod. 

Das Cover, ein Gemälde „Le cercle“ von Jean Béraud, vollendet perfekt den Roman. 

Standort: Musee d'Orsay, Paris, France

 

Die letzte Umschlagseite enthält ein Bild des Autors als Doppelporträt, das symbolisch für die beiden Brüder und für seinen tiefen Einstieg in ihr Leben steht.

 

Fazit

 

Nachwort Alain Claude Sulzer

 

„So, wie sich die Brüder Goncourt die Freiheit herausnahmen, das Leben ihrer Magd Rose Malingré in einem Roman nachzubilden, in dem diese den Namen Germaine Lacerteux erhielt, so habe ich mir erlaubt, einige Episoden aus dem Leben der beiden Unzertrennlichen zu einer Erzählung zu verdichten, in der nur wenig erfunden ist.“ (S. 290)

 

Alain Claude Sulzer baut um sein Gerüst der Tagebücher und dem Roman „Germaine Lacerteux“ zwei Teile, die Brüder Gouncort und ihrer Magd Rose, auf. Die Hintergründe sind belegbar, Zitate formt er um. Damit verdichtet er beide Handlungsstränge zu einer Geschichte, ohne eine Biografie zu schreiben. Der Blick des Romans ist auf Rose, die Magd gerichtet, die vor den Augen der Brüder Goncourt ein dramatisches Doppelleben führt. Die Brüder sind stolz auf ihre akribische Beobachtungsgabe, doch in ihrer unmittelbaren Umgebung sehen sie nichts. Sie sind gefangen in ihrer eigenen Welt, ihrem Narzissmus und Leid. 

 

Jules Siechtum seit seinem zwanzigsten Lebensjahr schreitet unaufhörlich fort und beide, Rose und Jules, können den Tod nicht aufhalten. 

Mit Rose und Jules thematisiert Sulzer die Klassengesellschaft der damaligen Zeit. Der Autor fängt das Verhältnis zwischen den gehobenen und niedrigen Ständen ausgesprochen gut ein. Eine Hausangestellte gehört zur Notwendigkeit eines funktionierenden Haushalts. Ein Übel, das man in Kauf nimmt, ein Objekt, das man kaum wahrnimmt.

Erst nachdem die Tragödie von Rose offenkundig wird, beschließen die Brüder, nach langen Nachforschungen bei Gläubigern, Bekannten und dem einschlägigen Umfeld Rose ein Buch über sie zu schreiben. Sie beschreiben eine Frau von niedrigem Stand in allen Facetten und setzen ihr damit ein Denkmal. 

 

Der Roman „Doppelleben“ ist eine mutige Hommage an die Brüder Goncourt und Rosalie Malingre.

 

 

 

 

 

 

Alaine Claude Sulzer

 

Doppelleben

Verlag: Galiani Berlin

Erscheinungstermin: 18.08.2022

 

 

 

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, September 2022, Buchvorstellung Alaine Claude Sulzer, Doppelleben, https://www.lesenueberall.com/2022/10/07/doppelleben/

Kommentar schreiben

Kommentare: 0