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Tristania

Autorin 

Marianna Kurtto, geboren 1980 in Helsinki, lebt seit einigen Jahren auf dem Land, als Writer in Residence im Haus der Schriftstellerin Eeva Joenpelto. In Finnland erschienen von ihr bisher fünf Gedichtbände und zwei Romane. Sie wurde mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihr Debütroman Tristania wurde für den Preis des Nordischen Rates nominiert, in mehrere Sprachen übersetzt und ist ihr erstes Werk, das auf Deutsch erscheint.

Quelle.: mareverlag GmbH & Co. oHG  

 

Inhalt

Die Inselbewohner von Tristania leben vom Fischfang und treiben Handel mit Schiffen, wenn diese bei ihnen haltmachen. Sie tauschen, was gerade befördert wird: Mehl, Reis, Seife, Zigaretten und vieles mehr. Manchmal werden Briefe gebracht, die Hoffnung auf Geschichten „aus einer anderen Welt […], in der man die Stoffe in Geschäften aussucht und Vögel zum Wohnen in Käfige setzt“ (S. 46) enthalten. Im Gegenzug bekommen die Schiffe Trinkwasser, Handarbeiten und Schafe oder das, was die Inselbewohner gerade parat haben.

 

 

„Und die vorbeifahrenden Schiffen hinterließen uns auch immer etwas, wenn welche vorbeifuhren und die Launen der Winde, die Fahrpläne der Handelsrouten und die unsteten Gemüter der Kapitäne es ihnen erlaubten, in unseren Gewässern haltzumachen.“

(S. 30 f.) 

 

Die Erzählung besteht aus einer Reihe von Hauptpersonen, die sich auf drei Familien verteilen. Verwoben werden diese Personen mit weiteren Nebenfiguren, sodass ein Geflecht von nicht immer durchschaubaren Handlungen innerhalb der Verbindungen entstehen. 

Lise ist mit Lars verheiratet. Jedoch Lars ist abwesend, als die Erzählung beginnt. Er hat in London mit einer anderen Frau, Yvonne, ein neues Leben angefangen. Jon ist der Sohn von Lise und Lars. Jon hat offensichtlich die Beschützerrolle seines Vaters übernommen. Er betrachtet die Mutter-Sohn-Verbindung als ein „Spiel“.

 

„Ich spiele den Schlafenden. 

Meine Mutter spielt die Mutter.“ (S. 11)

 

Martha ist Lehrerin auf der Insel, sie heiratet spät und kann keine Kinder bekommen. Sie gilt auf der Insel als „merkwürdig“ und trägt ein Geheimnis mit sich. 

 

„Bevor sie geht, legt Martha die Decke aufs Bett, und alles darunter bleibt verborgen.“ (S. 136)

 

Der Beginn des Romans wird zunächst durch Reflexionen der Personen in ihren Beziehungen bestimmt. Lises Gedanken drehen sich um die Frage, warum Lars sie verlassen hat, Jon will die Abwesenheit seines Vaters verstehen und Martha unterdrückt ihre Gefühle, sie will ihr Geheimnis nicht verraten. Auch alle anderen Figuren sind mit ihren Wünschen und Vorstellungen des Lebens auf Tristania innerlich beschäftigt.

 

Dann bricht der Vulkan aus, der Tristania geformt hat. 

 

„Die Erde schwankt und ist dann ganz still.“ (S. 134)

 

Das innerliche „Schwanken“ der Bewohner Tristanias gerät ebenfalls in Stille. Das gewohnte Leben verändert sich und sie müssen die Insel verlassen. Die gesamte Insel muss evakuiert werden und von nun beginnt ein neuer Abschnitt ihres gewohnten Lebens, der Entscheidungen erfordert.

Während der Evakuierung bleibt Jon auf der Insel. Die Suche nach ihm ist zunächst erfolglos. Lars erfährt im fernen England von dem Ereignis und entschließt, zu seiner Familie zurückzukehren. Später beginnt die Wiederbesiedlung der Insel. Und auch das dunkle Geheimnis wird erhellt.

 

Sprache und Stil

Der Roman beginnt mit einem Prolog, der einer Ouvertüre gleichkommt. Kraftvoll und melodisch wird das Thema der Handlung aufgenommen. 

 

„Würden Wellen etwas fühlen, würden sie sich wundern, wenn sie auf die Insel träfen; sie haben geglaubt, ihr Weg wäre endlos, eigentlich sogar, ihre Welt wäre Unendlichkeit. Aber jetzt prallen sie auf grauen Stein und schwarzen Sand, werden in die Höhe geschleudert und zerstieben, regnen in wütenden Spritzen auf die empfindungslose Uferlinie herab. Sie drängen immer weiter, Stück für Stück tiefer, sodass die im Sand vergrabenen Schnecken bald das Wasser im Nacken spüren, sich an ihr Zuhause erinnern, es in sich tragen“ (S. 7)    

 

Auf diesen komplexen Eingangsabschnitt folgen ruhigere Abschnitte von Wellen und Wasser, die mystischen Klang und Emotionen verspüren lassen. Langsam entsteht ein Bild der Insel, dunkel und geheimnisvoll. Der Vulkanausbruch lässt mit seinen glühenden Lavaströmen, die ins Meer strömen, „Skulpturen“ entstehen. So wie die Wellen ewig gegen die Insel schlagen und weiter „ihre Ränder umformen“, so würde der Mensch, wenn er der Spur der Lava folgt, an den Rand des Kraters in das Innere, in die glühende, brodelnde Masse schauen, das Herz des Berges sehen und sein eigenes Herz erkennen.

In poetischer Sprache durchzieht das Thema nach der Suche zu sich selbst die Frage, wo ist meine Heimat.

 

„Aber bis zum Rand dieses Herzens ist es ein weiter Weg.“ (S. 8) 

 

Das Setting wird geprägt durch die Abgeschiedenheit der Insel, mit grauem Stein und schwarzem Sand, die von Wellen heftig umspült wird. Die Insel ist ein Berg, „zwei Kilometer hoch, ozeantief und von Schluchten gespalten.“ (S. 12 ) Und zwischen Meer und Berg liegt das Dorf. 

 

Die Handlung ist einfach, wie auch die Figuren in dem „Stück“ einfache Menschen sind. Sie führen ein bescheidenes Leben in der rauen Natur. 

 

Marianna Kurtto beschreibt die Inselbewohner, deren Leben von der Kargheit, Abgeschiedenheit, Einsamkeit und Sehnsüchten nach der Aussenwelt geprägt ist. Ihre Gedanken drehen sich immer wieder ums Ankommen, eine Heimat finden in der Familie und in der Landschaft. Die Autorin stellt dem Ausbruch des Vulkans das Innere des Menschen gegenüber. Wie der Vulkan jederzeit ausbrechen kann, lauert zwischen den Zeilen immer etwas Verborgenes, das bereit ist, wie ein Lavastrom sich zu lösen.

Sie nutzt für diese intensive Betrachtung unterschiedliche Stilmittel, stellt in den einzelnen Kapiteln ihre Figuren wie in einen Reigentanz zusammen. Den Reigen eröffnet Jon und endet mit Martha. Reihum führt die Autorin in die Gedanken, Gefühle und psychisch verborgenen Welten der Protagonisten ein. Und auch die Nebenfiguren bekommen Konturen. 

Es entsteht ein Puzzle aus Rückblenden, unterschiedlichen Ich-Erzählern Jon und Lars und  auktorialer Erzähler, die durch die Gedankenwelt führen. Die hochpoetische Sprache ist zwar wunderschön zu lesen, dadurch wird aber manchmal Unterscheidungen der Charaktere in den einzelnen Passagen nicht klar herausgearbeitet. Kursiv geschriebene Texte geben Eindrücke oder Gedanken einzelner Personen wieder. Zeitsprünge, das Spielen des Textes mit Auslassungen, und Anspielungen und ein unvollendetes Gespräch als Rätsel, das am Ende gelöst wird, entwickeln immer wieder neue Bilder vor einer dunklen Kulisse, die langsam auf den Ausbruch zusteuern, sowohl des Vulkans als auch der Ausbruch der Inselbewohner.

 

Fazit

Der Roman „Tristania“ beruht auf einer wahren Begebenheit. Am 8. Oktober 1961 kam es zu einem Erdbeben auf der Insel Tristan da Cunha. Es formte sich ein Hügel, aus dem zwei Tage später der Ausbruch des Vulkans erfolgte. Die Inselbewohner wurden schnell evakuiert und konnten im September 1962 wieder zurückkehren. 

vgl. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tristan_da_Cunha, 10.08.2022.

 

Auf dieser Grundlage entwickelt Marianna Kurtto ihren Roman und passend zu der Stimmung entwirft sie einen atmosphärisch dichten, ruhigen, verhaltenen und poetischen Text. Trotzdem schafft die Autorin die Balance zwischen ruhigen Erzähltempo und grandioser Spannung herzustellen. Wie bei einem Drama in drei Akten schreitet das Geschehen dem Finale entgegen. Das Leben auf Tristania, der Vulkanausbruch und die Rückkehr verschmelzen im Finale zu einem dramatischen Wendepunkt.

 

„Würden sie [die Wellen] etwas fühlen, hätten sie vor der Insel so viel Angst, dass sie erstarrten, und es gäbe kein Wasser mehr. Aber sie fühlen  nichts, sie schlagen an Land, ziehen sich aufs Meer zurück und lösen sich auf.“ (S. 8)

 

Tristania 

Marianna Kurtto

Roman

OT: Tristania

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

mareverlag GmbH & Co. oHG

Erscheinungsdatum: 26.07.22

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, August 2022, Buchvorstellung Tristania, Marianna Kurtto, https://www.lesenueberall.com/2022/08/10/tristania/

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