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Opus 77

Autor

Alexis Ragougneau

 

Inhalt

„Wir werden mit dem Schweigen beginnen. Aber Schweigeminuten dauern ja, wie Sie wissen, nie volle 60 Sekunden, genauso wenig wie Minuten stillen Gedenkens bei einer Beerdigung in einer Genfer Basilika.“ (S. 6)

 

Die weltweit gefeierte Pianistin Ariane Claessens sitzt am Flügel einer Genfer Basilika und beschließt spontan, statt Liszts Trauermarsch, Opus 77 ein Werk für Violine und Orchester von Schostakowitsch zu spielen. Ihr Vater war der berühmte Dirigent des führenden Sinfonieorchesters der Schweiz, kurz OSR genannt. 

Sie hat ihren Vater beim Sterben begleitet. Nun wird er zur letzten Ruhe gebettet. 

 

Sprache und Stil

„Hören Sie mir jetzt gut zu, hören Sie unsere Geschichte; die Geschichte von meiner Mutter, meinem Bruder und Ariane Claessens, die für Sie aus dem Gedächtnis spielt; diesmal, das verspreche ich Ihnen, werde ich die Hüllen fallen lassen, und Sie werden mich nackt sehen, wie Gott mich schuf.“ (S. 12)

 

Ariane beginnt zu spielen. Sie spielt alleine, ohne ein Orchester im Hintergrund. Der Tastenumfang eines Klaviers von 88 Tasten deckt quasi das Klangspektrum eines Orchesters ab. Es erreicht die Tiefen eines Kontrabasses und schwingt sich auf in die Höhe der Piccolo-Flöte. Das Dämpfer-Pedal bietet die Möglichkeiten, den Klang zu gestalten, zu zaubern. Es erzeugt Klänge, die hörbar sind, Klänge, die Stille erzeugen können. 

Wie die Musik aus dem Klavier unter ihren Händen langsam wächst, schneller, lauter und schwieriger wird bis zur Explosion, die im letzten Satz mündet, beginnen ihre Gedankenströme nach außen zu fließen. Die Musik und ihre Gedanken verschmelzen ineinander, so als ob die Partitur die Geschichte enthält, eine Geschichte über Leidenschaft, über die Schwierigkeit, im Schatten eines berühmten Vaters zu leben, die Macht der Musik, über Opus 77 von Schostakowitsch. 

 

Der Klavierauszug des Opus 77 von Schostakowitsch ist ein gefühlvolles Violinkonzert über vier Sätze, das weitreichende Bedeutung für Familie Claessens hat.

 

Die Charaktere sind lebendig und authentisch

Im Mittelpunkt der Familie steht der übermächtige Dirigent, Claessens, der nur mit seinem Familiennamen genannt wird. Er steht in seiner Familie als Synonym für Vater, wird verehrt, aber auch gefürchtet. Er war ein großartiger Solopianist, wurde ein weltberühmter Dirigent und stellt rücksichtslos für seine Karriere alle seine Bedürfnisse in den Vordergrund.

 

„Mit der Leitung des Orchestre de la Suisse Romande erreicht Claessens gleich zwei gesellschaftliche Stellungen, um die ihn viel beneiden: Chefdirigent eines Orchesters von europäischem Rang und Mitglied der Genfer Notabeln.“  (S. 61) 

 

Yaël, seine Frau, hatte eine vielversprechende Karriere als Sopranistin vor sich. Die junge Sopranistin mit einem seltenen Stimmtimbre lernt Claessens auf einer Tournee in Israel kennen. 

Die viel jüngere Sängerin folgt ihm. Aus verrückter Liebe und Leidenschaft, Mutterschaft, Ernüchterung und Verlassenheit entsteht unendliche Stille und Leere. Sie ist gezwungen, alles für sich aufzugeben, steht nur noch als ein schwacher Schatten Hintergrund ihres Mannes. Sie wird depressiv und zeitlebens unglücklich.

 

„Von ihrem Leben in Israel hat meine Mutter nichts oder fast nichts aufbewahrt.“ (S. 37)

 

David, der Sohn, das blasse Gesicht verborgen hinter schwarzen Locken, Geigenvirtuose, der am liebsten vor diesem egozentrischen Vater flieht. David war sechs Jahre alt, als er sich entschied, Geige zu spielen. Er fügte mit dieser Wahl seinem Vater eine große Schmach zu, der ihn schon am Klavier triumphieren sah. 

 

„Schon als Kind hast du dein Instrument als Stimme benutzt. Wenn Yaël sang, spieltest du zum Spaß die Melodie auf deiner Geige nach. Du hast nach dem Gehör gelernt.“ (S. 45)

 

Ariane, eine großartige Solopianistin, deren Status als Tochter sie vor dem Wahnsinn ihres Vaters schützt, wird verdeckt von der perfekten Inszenierung der unnahbaren Pianistin.

Sie ist ein Mädchen, sie kann nicht die Erbin der brillanten Claessens sein! Als Teenager wurde sie beauftragt, David zu helfen, ihn zum Arbeiten zu bringen, damit der Älteste die Sterne erreichen kann.

 

„Wir wurden natürlich Sonatenpartner, David Claessens und seine kleine Schwester Ariane.“ (S. 45)

 

Schon früh werden ihre musikalischen Karrieren wie selbstverständlich aufgebaut. Beide Kinder finden wenig Unterstützung bei ihren Eltern. Ariane begleitet jahrelang ihren sensiblen Bruder, sie unterstützt ihn musikalisch und übernimmt auch Verantwortung für ihn. 

Zwischen Vater und Sohn entstehen unüberbrückbare Differenzen, die zum Bruch führen. David verschwindet ohne Abschied. Das Schlüsselerlebnis ist Opus 77.

 

Aufbau des Romans

Der Aufbau entspricht der Satzfolge des titelgebenden Opus 77 in vier Sätzen. Der Roman ist in fünf Kapitel aufgeteilt. Alexis Ragougneau hat der Kadenz aus dem dritten Satz der Passacaglia ein zusätzliches Kapitel gewidmet.

Jedem Kapitel wird ein passendes Zitat von Kafka, Canetti, Bernhard und von Kleist vorangestellt.

 

Erster Satz Nocturne 

„Wie verschrumpelt Claessens dalag, wie alt in seinem Sarg! Eine Mumie schon. All diese Mühen, sich seine Jugendlichkeit zu bewahren, all die Creme, Haarimplantate und Schönheitsoperationen, alles durch Tod und Krankheit zunichtegeworden.“ (S. 7)

 

Der erste Satz Nocturne ist dem Vater, dem Dirigenten gewidmet. Getragen wird die Sprache von einem Fluss dunkler und subtiler Farben und leiten die Familiensaga mit düs­teren Schattierungen ein.

Die Sprache stellt mit dieser Einleitung das Thema vor, die in eine andere Welt eintauchen lässt.

 

Zweiter Satz Scherzo

Der zweite Satz, Scherzo, gleicht einem dämonischen Tanz, der von den Traumata, die den Familienmitgliedern zugefügt wurden, erzählt. Das Leiden, das nur flüchtig die Maske der Heiterkeit vorhält, wird offensichtlich.

 

„Damals lebten wir in Paris. Claessens, noch eine gefragter Pianist, war mit seiner Karriere beschäftigt. […], nahm […] gerade die Schubert-Sonaten auf. Es gab ausgezeichnete Kritiken. Viele Konzertreisen. Geld. Erfolg.“ (S. 55)

 

Dritter Satz Passacaglia

Mein Name ist Krikorian, hatte der alte Mann am ersten Tag gesagt. Ich unterrichte Geigenkunst. Vielleicht auch ein bisschen Lebenskunst." (S. 111)

 

David wechselt das Konservatorium. Ein neuer Lehrer namens Krikorian übt mit ihm. Ariane unterstützt selbstverständlich ihren Bruder und ist bei den Übungsstunden dabei. Krikorian ist ebenso ein begnadeter Geiger, wie auch seine Unterrichtsmethoden außergewöhnlich sind. 

Er bereitet David auf einen Wettbewerb vor, an dem er im Finale Schostakowitschs Opus 77 spielen soll, gemeinsam mit dem Orchester national de Belgique unter dem Dirigenten Claessens. 

Parallelen zu Schostakowitsch werden sichtbar. Seine Musik ist unter Stalin ein ewiges Auf und Ab. Mal ist Stalin ein Freund, dann wieder ein Feind. David und sein Vater begegneten sich ebenso zwischen Freundschaft und Feindschaft.

Der dritte Satz endet mit der Kadenz, die im Roman als viertes Kapitel erscheint.

 

„Dann wendete er sich seinem Vater zu und sah ihn an wie einen Fremden. Totenstille; eine kurze Verbeugung, dann ging David ab, die Violine unter dem Arm; das Konzert blieb unvollendet.“ (S. 194) 

 

Die Kadenz spiegelt die Rebellion der Kinder wider. Das Spektrum des bisher Erzählten wird ausgelotet. 

Im Violinenspiel dauert die Kadenz 6–7 Minuten. Im Roman wächst ebenso die Spannung, langsam bis eine enorme Explosion den letzten Satz, das letzte Kapitel einleitet.

 

„Ich war drei. Und saß unter dem Steinway, der sich in ein Folterinstrument verwandelt hatte.“ (S. 194)

 

Vierter Satz Burleske

„Ich bin jetzt durch mit Opus 77. In der Kirche herrscht jetzt Totenstille. Ich halte mich aufrecht. Und schaue Ihnen allen ins Gesicht.“ (S. 217)

 

Die Burleske löst alles auf. Der Bogen wird noch einmal gespannt über die wichtigsten thematischen Elemente, Leiden, Missverständnisse — Stille.

 

Biografische Passagen

In den biografischen Passagen über Schostakowitsch wird sein wechselndes Verhältnis zu Stalin deutlich. 

 

„Fast siebzehn Jahre lang diente Dimitri Schostakowitsch Stalin als Spielball.“ (S. 145)

 

Stalin verehrte und verfolgte ihn abwechselnd. Im April 1932 werden unerwartet alle proletarischen Kulturorganisationen aufgelöst. Zeitgleich wird Schostakowitsch Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ vor fast ausverkauften Häusern in Petersburg und Moskau uraufgeführt. Stalin schaut persönlich eine Vorstellung an. Auf die Frage von Kritikern, wie ihm die Oper gefallen habe, antwortet er: „Das ist Chaos und keine Musik!“

Davids Lehrer Krikorian ist ein begnadeter Geiger. Auch er wird verfolgt. Nach einem Konzert in Budapest, bei dem er die verbotene Kadenz von Leopold Auer spielt und zusätzlich einen ungarischen Tanz, wird er zu Hause erwartet und verhaftet. 

 

Der Roman oszilliert zwischen zwei totalitären Systemen, zweier Diktatoren, Stalin und Claessens.. Opfer dieser Diktatoren sind auf der einen Seite Schostakowitsch und Krikorian und auf der anderen Seite Mutter und die beiden Kinder Claessens. 

 

Das Leben liegt zwischen Ruhm und der Bedrohung durch den Gulag. 

 

Die Erzählerin Ariane erzählt auf verschiedene Zeitebenen, die durchbrochen werden mit Perspektivenwechsel der verschiedenen Personen. Wörtliche Rede wird kursiv gesetzt. Das Hauptmotiv ist die Geschichte von Arianes Bruders, der im Roman nicht zu Wort kommt. Er hat sich in seinem Blockhaus in Sion zurückgezogen. 

 

Das Cover zeigt ein schwarzes Klavier auf insgesamt sehr dunkeln Hintergrund. Die Schrift sticht in Rot hervor. Insgesamt vermittelt das Titelbild eine dunkle, geheimnisvolle  Grund­stimmung.

 

Fazit

„Um Opus 77 zu spielen, muss man ganz unten gewesen sein und dort eine Weile geblieben sein.“ (S. 94)

 

Schostakowitschs Opus 77 erscheint als Symbol eines Kampfes zwischen Licht und dunklen Mächten. Es ist der Kampf gegen Stalin in einem mächtigen Russland. Bei Claessens ist der überbordende Ehrgeiz der Antrieb, Musik als Leben geweiht. Jeder Ton wird hart erarbeitet, doch nicht jeder hält diesen Druck aus. Nicht jedes Wunderkind schafft, den Weg zum Ruhm zu Ende zu gehen. Auf Licht folgt Schatten, auf Ovationen im Scheinwerferlicht folgt die Einsamkeit. 

 

Alexis Ragougneau dringt in seinem Roman tief in das Innere der unerbittlichen Welt der klassischen Musik ein. Deutlich zeigt er den Anspruch der Musiker, die Karriere machen wollen. Erst die Besessenheit von ihrer Kunst und Unterwerfung unter rücksichtslosen Regeln führt sie zur Vollkommenheit der Musik. 

 

„Opus 77 oder der einzige Rettungsanker eines Menschen, der sich zum Selbstmord getrieben sieht. Nie hat Musik wohl mehr den Kampf des Lichts gegen die dunklen Mächte symbolisiert.“ (S. 147)

 

 

 

 

 

Alexis Ragougneau

Opus 77

Unionsverlag Zürich,  14.2.2022

Aus dem Französischen von Brigitte Große

 

 

 

 

 

 Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, März 2022, Buchvorstellung Alexis Ragougneau, Opus 77, https://www.lesenueberall.com/opus-77/

 

  

 

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