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Kostbare Tage

Autor

Kent Haruf

 

Die Geschichte spielt Anfang des 21.Jahrhunderts und, wie alle bisherigen Romane des Autors, in Holt, einem fiktiven Städtchen im US Bundesstaat Colorado in der Nähe von Denver.

 

Der Roman beginnt traurig:

Ein Arzt im Denver Krankenhaus eröffnet dem 77 jährigen Dad Lewis, dem Besitzer der Eisenwarenhandlung in Holt, dass er an einer tödlichen Krankheit leidet, die ihn noch vor dem Herbst dahinraffen wird.

 

Zu Hause geht es dramatisch weiter: Seine Ehefrau Mary bricht im Wohnzimmer ohnmächtig zusammen und wird dann mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht.

 

Schließlich kommt ihre Tochter Lorraine, eine Mittfünfzigerin aus Denver, um sich um ihre Eltern zu kümmern.

 

Im Zentrum des 352 seitigen Romans steht das Ehepaar Lewis.

Wir erleben Dad’s letzte Wochen, Tage und Stunden mit und erfahren Einiges aus dem einfachen, aber bewegten Leben der beiden Eheleute und ihrer Kinder Lorraine und Frank, dem „verlorenen Sohn“.

 

Daneben lernen wir einen Teil der anderen Bewohner des Städtchens kennen. Es sind dies Menschen, mit denen Dad und Mary zu tun haben.

 

Da ist die alte Nachbarin Berta May, eine treue Seele, die sich seit Neuem um ihre achtjährige Enkelin Alice kümmern muss, weil ihre Mutter an Brustkrebs verstorben ist und ihr Vater sich schon vor Jahren vom Acker gemacht hat.

 

Wir lernen Reverend Rob Lyle kennen, einen Endvierziger, der vor kurzem mit Frau und Sohn nach Holt zwangsversetzt worden ist, weil er sich an seinem früheren Wirkort Denver aus Sicht der Kirche daneben benommen hat. Seiner Familie fällt der Start in diesem kleinen Städtchen nicht leicht und auch hier überschlagen sich die Ereignisse.

 

Ausserdem bekommen wir einen Einblick in das Leben der Johnson Frauen. Es sind dies die Witwe Willa und ihre heimgekehrte, unverheiratete 60 jährige Tochter Alene, ehemalige Lehrerin, die eine gescheiterte Liebesbeziehung hinter sich hat und traurig darüber ist, keine eigene Familie zu haben.

 

Nach und nach lernen wir die o. g. Protagonisten näher kennen. Wir tauchen in deren Alltag und Gedankenwelt ein und werden auf diese Weise selbst ein Teil der Kleinstadt Holt, in der Klatsch und Tratsch keine unerhebliche Rolle spielt.

 

Dabei beschreibt der Autor seine Charaktere nicht eindimensional, sondern in all ihrer Komplexität. Sie erwachen zum Leben und man kommt ihnen nahe. Es sind Figuren mit Ecken und Kanten, in deren Alltag und Innenwelt man einen guten Einblick bekommt.

 

Rührend und bewegend liest es sich, wie Mary und Lorraine sich ihrem Ehemann und Vater in dessen letzter Lebensphase zuwenden. Man kann sich nur wünschen, in der Sterbephase so liebevolle und treue Begleiter an seiner Seite zu haben.

 

Es ist interessant, mitzuerleben, wie Dad seine letzte Lebensphase erlebt und gestaltet.

 

„Kostbare Tage“ ist ein zutiefst menschlicher Roman, der ernste und zugleich alltägliche Probleme aufgreift.

Es geht um das Thema Verlust in all seinen Varianten… Jugend, Gesundheit, das Leben als Solches, Mutter, Kind, Heimat, Freunde, Ehemann.

Es geht um das Altern, um Krankheit und den bevorstehenden Tod, um ein verwaistes Kind, dessen Mutter gestorben und Vater unbekannt ist.

Und es geht um Trauer und Verbitterung über verpasste Gelegenheiten, über Familienstreitigkeiten.

 

Der Schwere und Ernsthaftigkeit dieser Themen, setzt der Autor ein Gegengewicht an Lebendigkeit, Lebensfreude, Hoffnung, Freundlichkeit, Offenheit, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und herzerwärmender Zugewandtheit entgegen.

 

Während er die schmerzlichen und fast alltäglichen Seiten des Lebens sehr nachvollziehbar, absolut realistisch und lebensnah beschreibt, tendiert er dazu, die angenehmen und erfreulichen Seiten des Lebens etwas zu überzeichnen.

Das hat mich zunächst ein bisschen stutzig gemacht und ambivalent zurückgelassen, weil sich Kent Haruf in diesen Momenten gefährlich nah an die Grenze des Unrealistischen, Kitschigen und Schnulzigen herangewagt hat.

Aber eben nur herangewagt. Er hat diese Grenze niemals überschritten. Denn diese dem Schweren gegenübergestellten herzerwärmenden, bezaubernden und feinfühlig erzählten Episoden sind niemals komplett abwegig. Sie sind schwer vorstellbar und unwahrscheinlich, aber eben doch möglich und vor allem wünschenswert.

Letztlich überwog das Gefühl, dass diese Seite der Medaille zwar etwas überspitzt, aber gleichzeitig rührend, berührend, idealistisch und voller Hoffnung und Glaube an das Gute im Menschen und an der Welt dargestellt wurde.

 

Ich habe den Eindruck, dass der Autor zeigen möchte, dass es im Leben letztlich um Beziehung und Liebe geht. Er möchte, meine ich, ausdrücken, dass dadurch Vieles ertragen und kompensiert werden kann und dass bei all der Schwere im Leben eben auch das Positive existiert.

 

Kent Haruf beschreibt alltägliche Begebenheiten dermaßen bildhaft, feinfühlig und berührend, dass ich nur staunen und ihn dafür bewundern kann.

 

Ein Highlight, das man m. E. unbedingt lesen muss.

 

5/5

 

Gast Rezension von Susanne Probst

https://lieslos.blog

 

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