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Ein wenig Leben

Autorin

Hanya Yanagihara

 

Inhalt

JB, Malcolm, Willem  und Jude lernen sich am College in New York kennen. 

Jean-Baptiste «JB» Marion ist haitianischer Abkunft. Er schlägt eine erfolgreiche Künstlerkarriere ein. Malcolm Irvine ist der Sohn eines afroamerikanischen Finanzmanns und einer nicht minder erfolgreichen Mutter und findet eine Anstellung im Büro eines Stararchitekten. Willem Ragnarsson stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Er schafft es zu einem international gefeierten Schauspieler aufzusteigen. 

Jude St. Francis, ein Findelkind, verschlossen und kränklich, steigt mit außerordentlicher Intelligenz und unerbittlicher Zähigkeit zu einem Staranwalt auf.

Im Focus des Romans steht die Lebens- und Leidensgeschichte von Jude. Er trägt ein inneres, schmerzhaftes Geheimnis mit sich, das er um keinen Preis seinen Freunden offenbaren will. Obwohl Jude ein aufopfernder, liebender Mensch ist, zeigt seine andere Seite einen innerlich zerbrochenen Menschen. Der Zusammenhalt ihrer Freundschaft wird immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Tiefer und tiefer geraten sie in die schmerzhafte Welt, sein Inneres, ohne seine Gründe zu verstehen. Doch sie tun alles, um ihm zu helfen.

 

Sprache und Stil

 

"Mein Leben, wird er denken, mein Leben. Aber weiter wird er nicht denken können, und er wird diese Worte im Geiste wiederholen – Mantra, Fluch und Ermutigung zugleich… (S. 169)

 

 

Die Autorin Hanya Yanagihara packt konsequent und ohne Tabus die nur schwer auszuhaltenden Themen von Missbrauch und Gewalt, Selbsthass und Selbstverletzung an. Dabei geht sie an die Grenzen der Beschreibungen mithilfe eines intensiven Schreibstils.

Sie sondiert die Vergangenheit, die sich hinter Judes Reserviertheit versteckt. Eine Reserviertheit, die Jude nach außen unter stets deckenden Kleidern, Shirts und Hemden mit langen Ärmeln verbirgt. Eine Reserviertheit, die seinen Schmerzattacken und auch seinem ungleichmäßigen Gang Schutz nach außen bietet. In Rückblenden wird seine Vergangenheit sichtbar, die ihn verfolgt und die er nicht abschütteln kann. 

 

„Die Hyänen kehrten zurück, waren zahlreicher und hungriger als zuvor, jagten ihn noch rastloser. Und dann kam auch alles andere wieder: Jahre über Jahre über Jahre an Erinnerungen, von denen er geglaubt hatte, sie unter Kontrolle gebracht und entschärft zu haben, bedrängten ihn plötzlich wieder, jaulten auf und sprangen ihm in den Weg, nicht zu ignorieren in ihrem Lärm, unermüdlich in ihrem Geheul, mit dem sie seine Aufmerksamkeit erheischten.“ (S. 415) 

 

Jude wird als Baby wie Abfall entsorgt. Mönche finden ihn und nehmen ihn ihre Obhut. 

 

„Bruder Michael behauptete später, so stimme das gar nicht. »Du lagst nicht in der Mülltonne«, sagte er zu ihm. »Du lagst neben der Mülltonne.« Ja, räumte er ein, da sei ein Müllsack gewesen, aber er habe darauf gelegen, nicht darin, und überhaupt, wer wisse schon, was in dem Müllsack gewesen sei, und wen kümmere es?“ (S. 158 f.)

 

So wie sein Leben als Findelkind neben einer Mülltonne begann, so wird es fortgeführt. Er wächst im Kloster und im Heim auf, unter brutaler Zucht und Notzucht, wird missbraucht und fällt pädophilen Monstern in die Hände, muss sich prostituieren, um als Jugendlicher zu überleben. 

Der freundliche Klosterbruder Luke flüchtet mit ihm aus dieser Hölle, aber nur in eine andere Hölle. Luke bleibt zwar immer freundlich zu ihm, doch er zwingt ihn mit falschen Versprechungen zur Prostitution, jahrelang. Als Jude mit massiver Autoaggression reagiert, bringt er ihm das Ritzen bei. 

Jude erfährt ein jahrelanges Martyrium, über das er nie redet, das er versucht zu vergessen. Vergessen, um weiterzuleben. Doch das Vergessen funktioniert nicht. Die Dämonen der Vergangenheit tauchen immer wieder auf, er kann sie nicht abschütteln.

 

„Sein Schweigen war anfangs ein Schutz gewesen, aber im Laufe der Jahre ist es zu etwas nahezu Erdrückendem geworden, etwas, das ihn beherrscht statt umgekehrt. Jetzt kann er es nicht mehr ablegen, selbst wenn er es sich manchmal wünscht.“ (S.322)

 

Das Ritzen, das Bruder Luke ihm beigebracht hatte, führt er fort, jahrelang, jahrzehntelang, um seine seelischen Qualen auszuschalten.  Der Schnitt wird zum Leitmotiv.

 

„…, dass es eine Form der Bestrafung und zugleich der Reinigung war, dass er dadurch alles Giftige und Verdorbene aus sich herausspülen konnte (…), dass es ihm das Gefühl gab, sein Körper, sein Leben gehöre tatsächlich ihm und nur ihm.“ (S.519)

 

Hanya Yanagihara öffnet kontinuierlich das Leben Judes und lässt einen Blick in die dunkelste unvorstellbare Tiefe seiner Seele werfen, die durch Gewalt und Missbrauch von Menschen an Menschen entstanden ist. Sein Leiden wird von Yanagihara in einer Abfolge von Rückblenden sorgfältig dargelegt, wobei jeder Rückblick grausamer ist als sein Vorgänger. 

Wie dickes Narbengewebe seine Arme überziehen, so wird seine Seele ebenso mit einer dicken Narbenschicht überzogen.  

 

„Das Narbengewebe überzog seine Unterarme mittlerweile in einer so dicken Schicht, dass sie von Weitem aussahen wie in Gips getaucht.“ (S. 520) 

 

Im Gegensatz zu dieser tiefen Dunkelheit stellt Hana Yanagihara eine überbordende Freundlichkeit und Herzenswärme seiner Freunde und auch seines Adoptivvaters dar. Seine Begegnung mit Erwachsenen wird, mit einer schrecklichen Ausnahme, geprägt durch eine unendliche Liebe und Hilfsbereitschaft. 

 

Der Roman wirkt isoliert, konzentriert auf Judes Leben. Anfangs auch auf das Leben seiner Freunde. Die Handlung zeigt nicht auf, in welcher Gesellschaft die Protagonisten leben. Der Raum, in dem ihr Leben sich abspielt, wirkt wie ein Vakuum - luftleer. Weder Zeitangabe noch tagesaktuelle Themen oder kulturelle Ereignisse wie Musik, Theater oder auch erkennbare Persönlichkeiten werden einbezogen. Der Roman besteht nur aus einer ewigen Gegenwart, in der das Gefühlsleben der Figuren in den Vordergrund rückt und der politische und kulturelle Zeitgeist diffus im Hintergrund bleibt. 

 

Mit dieser Taktik entwickelt die Autorin eine Handlung, die insbesondere auf das Leben von Jude abgestellt wird. In einer allmählichen Fokussierung auf Judes mysteriöse traumhafte Vergangenheit rückt sein Leben in den Vordergrund und seine Freunde treten mehr und mehr in den Hintergrund. Mit Jude im Mittelpunkt wird „Ein wenig Leben“ zu einem überraschend subversiven Roman, der den Leser emotional überwältigt. 

Das Cover des Buches, eine Fotografie des amerikanischen Fotografen Peter Hujan (1934-1987) mit dem Titel „Orgasmic Man“ aus dem Jahr 1969, spiegelt den Inhalt des Romans. Es zeigt sehr passend das Gesicht eines Mannes in einem intimen Moment, aber auch Schmerz kann es sein, den der Mann gerade erleidet.

 

Ein wenig Leben“ ist in sieben separate Abschnitte unterteilt, die in einer chronologischen Erzählung mit häufigen Rückblenden durchbrochen werden. 

Hanya Yanagihara schreibt ausführlich, präzise, in schwelgerischen Bildern und beinah protokollarisch genau. Der Bogen wird über dreißig Jahre gespannt und entscheidende Stunden nahezu in Echtzeit geschildert. 

Yanagihara schreibt von Schmerz und Freude, Einsamkeit und Beziehung, Verletzungen, Verwundungen und die verzweifelte Suche nach Heilung, der Sehnsucht nach ‚ein wenig Leben‘. 

 

Fazit

 

„Und er setzt an, um noch etwas zu sagen, doch in diesem Moment schließt sich die Tür - und er ist endlich allein.“

(S. 723)

 

 

Jude lebt in Extremen. Er ist zerfressen von Selbsthass und selbstzerstörerisch, andererseits unglaublich loyal und liebevoll seinen Freunden gegenüber. Seine grauenhafte Kindheit hat ihn zerstört. Die Rückblenden, die Judes Vergangenheit durchleuchten, sind nur schwer zu ertragen. 

Was das Thema von Missbrauch und Leiden in „Ein wenig Leben“ subversiv macht, ist, dass es über helle, freundliche Momente hinaus keine Möglichkeit der Erlösung und Befreiung bietet. 

An einem schlimmen Punkt seines Lebens war er bereit zu sterben. Jude erinnert sich: „Er spürte, wie die Scheinwerfer auf ihn zukamen, zwei Feuerströme wie die Augen des Engels, und er drehte den Kopf zur Seite und wartete, und das Auto fuhr auf ihn zu und dann über ihn hinweg, und es war vollbracht." (S.592) Yanagihara zitiert die letzten Worte, die im Johannes-Evangelium Jesus am Kreuz sterbend ausruft.

In dieser gottlosen Welt ist Freundschaft der einzige Trost, der zur Verfügung steht. Neben seinem Jurastudium absolviert Jude einen Master in Mathematik. Besonders fasziniert ihn das Gleichheitsaxiom, das besagt, das x immer gleich x ist. Er setzt es mit seinem Leben gleich. Egal was er tut, er wird immer der Mensch sein, der er bisher war, „ein Mensch, der in anderen Abscheu hervorruft, ein Mensch, der existiert, um gehasst zu werden... […] x=x, x=x.“ (S. 365)

 

Judes Sprachlosigkeit und sein Schicksal werden authentisch und ohne Beschönigungen geschildert. 

 

Der Roman „Ein wenig Leben“ macht fassungslos, sprachlos, ruft zum Innehalten und Nachdenken auf.

 

 

 

Der Roman wurde als Bühnenstück aufgeführt

 

EIN WENIG LEBEN

 

nach dem Roman von Hanya Yanagihara

 

Premiere 23. September 2018 in Amsterdam

 

Aufführung Mai 2019 in Recklinghausen- Ruhrfestspiele

 

Regie

Ivo van Hove

 

 

Buch

 

EIN WENIG LEBEN 

Piper Taschenbuch; 8. Edition (4. September 2018)

960 Seiten

Originaltitel: A Little Life

aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner

 

Ebenfalls als e-book erhältlich

 

Meine Seitenzahlen beziehen sich auf das e-book.

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Kommentare: 1
  • #1

    Mira (Sonntag, 15 August 2021 15:42)

    Sehr bewegendes Schicksal.
    LG, Mira