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Biografie eines zufälligen Wunders

Autorin

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders«, 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«, 2019 ihr Roman »Blauwal der Erinnerung«. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmäßig Kolumnen und lebt in Wien.

Quelle: KiWi Taschenbuch

 

Handlung

„Lena wurde in San Francisco geboren und nannte sich Lena.“ San Franciso ist eine ukrainische Kleinstadt , mehr im Westen als im Osten des Landes.“ (S. 7)

 

Die Welt, in der Lena heranwächst, ist geprägt von Willkür und Gewalt. Lena, eigentlich heißt sie Olenka, wird in San Francisco geboren. 

Sie besucht den Kindergarten und muss schon früh ein „seelisches Trauma“ erleiden. Die Erzieherin, Frau Dutt, von Lena so nach ihrer Frisur benannt, weigert sich den Anordnungen der Direktorin mit den Kindern nur Ukrainisch zu sprechen. Sie war mehr der russischen Sprache als der ukrainischen Sprache verbunden, obwohl ihr russisch „grotesk, mit starkem ukrainischem Akzent und vielen ukrainischen Worten durchsetzt war, die sie jedoch falsch verwendete.“ (S. 10) 

Eines Tages trifft Frau Dutt der Kugelblitz im Kindergarten und sie löst sich in Regenbogenfarben auf.

 

In der Schule ist Lena eine Außenseiterin. Doch sie freundet sich mit Iwanka an, die sie „Hund“ nennt, weil Iwanka ihr treu überall hin folgt. Iwanka ist ein geistig nicht sehr begabtes, dafür aber lebenspraktisches Mädchen. Im Alter von fünfzehn Jahren heiratet sie einen religiösen Fanatiker, der sie unterdrückt und misshandelt. Nach einer langen Phase der Qual kann sie ihm zwar entkommen, aber sie ist trotzdem für ihr Leben körperlich entstellt. 

 

Nachdem die Ukraine eine Wende erlebt, Kirchen werden wieder gebaut und westliche Werte einfließen, versuchen auch ihre Eltern daran teilzunehmen. Ihr Vater baut Buchweizen an, aber erfolglos. Lena studiert Sport, nachdem andere Studienmöglichkeiten ihr verschlossen bleiben, weil sie die Aufnahmeprüfung für ihr Wunschstudium Philosophie nicht besteht. 

 

Lena erfährt von ihren Eltern, dass diese sich scheiden lassen wollen und mit jeweils neuen Partner/Partnerin zusammenleben werden. Lena beschließt daraufhin ihr Elternhaus zu verlassen, und zieht in das Studentenheim. Sie teilt sich ein Zimmer mit der dicken Diskus-Werferin Wassylina, der alles „Wurst“ ist. Nachdem sie sich der nationalen Freiheitsbewegung anschließt, die Straßennamen verändern und Bücher verbrennen wollen, wird sie von der Uni exmatrikuliert. Doch Lena gibt nicht auf. Sie versucht zu helfen. Kümmert sich um herrenlose Hunde, weil sie glaubt, dass diese an chinesische Restaurants verkauft werden. Sie macht das Problem mit Transparenten und mit ausländischen Journalisten öffentlich. Sie hilft der gelähmten Freundin „Hund“ einen Rollstuhl zubekommen, was dazu führt, dass Lena in die Psychiatrie eingewiesen wird, weil sie wütend auf die Leiterin des Sozialamtes einschlägt.

 

Sprache und Stil

Tanja Maljartschuk erzählt eine postkommunistische Geschichte in der Ukraine, die um ihren Weg in die Zukunft kämpft unabhängig von Russland, zerrissen zwischen Postkommunismus und Kapitalismus. Die Autorin erzählt sarkastisch mit einem frischen Unterton. Mit der Protagonistin Lena greift sie die unterschiedlichsten Thermen wie: Politik, Religion, Wissenschaft, Psychologie und noch vieles mehr auf. Dabei werden Korruption, Gewalt und Machtmissbrauch, grausamste Fanatiker-Praktiken, sturste Bürokraten-Beschlüsse und brutalste Gaunereien unmissverständlich und ironisch beschrieben, dass einem Schauer des Grauens über den Rücken laufen.

Eine der vielen erschütternden Episoden aus dem Leben Lenas:

 

„Es gab Leute, die ihre Kinder an einem Tischbein festbanden, damit ihnen nichts zustieß, während sie allein zu Hause waren. Es gab auch welche, die ihre Kinder nicht festbanden und die Kleinen tun und lassen ließen, was sie wollten, zum Beispiel Blumen aus dem neuen Tischtuch ausschneiden und feinsäuberlich auf dem Boden auslegen, wie dieser Fünfjährige aus Horodenka. Als die Erwachsenen nach Hause kamen, waren sie sehr verärgert. Der verängstigte Junge versteckte sich unter seinem Bett, der Vater zog ihn hervor und drosch dabei mit seinem Gürtel auf die Hände des Buben ein. Er schlug ihn so hart, dass dem Kleinen im Bezirkskrankenhaus beide Hände amputiert werden mussten. Beim Verlassen des Krankenhauses sagte der Junge zu seinem Vater – alle Ärzte und Krankenschwestern bekamen es mit und die Regionalzeitungen berichteten darüber: „Papa, ich werde nie mehr Blumen aus dem Tischtuch ausschneiden, gib mir nur bitte meine Hände zurück.“ (S. 60)

 

 

Fazit

Tanja Maljartschuks Roman „Biografie eines zufälligen Wunders“ erschien bereits im Jahr 2013. Die Neuauflage von 2022 hat an Aktualität nichts eingebüßt, sondern ist aktueller denn je. Der Erzählstil wirkt vordergründig komisch und gleitet zuweilen ins Fantastische und Groteske ab. Doch genau das spiegelt die Wirklichkeit der ukrainischen Gesellschaft und ihre Probleme anschaulich und überzeugend wider. 

Die Protagonistin Lena handelt mit Witz, Eigensinn und unerschöpflicher Fantasie gegen Gewalt, wenn Worte nicht mehr helfen. 

 

„Ich beende es so, wie Lena es getan hätte, wenn sie nicht der Meinung gewesen wäre, dass Worte reinste Zeitverschwendung sind.“ (S. 284)

 

 

 

 

 

Autorin: Tanja Maljartschuk 

Biografie eines zufälligen Wunders

Übersetzt von: Anna Kauk

Verlag: KiWi-Taschenbuch

Erscheinungstermin: 07.07. 2022

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Juli 2022, Buchvorstellung Tanja Maljartschuk, https://www.lesenueberall.com/biografie-eines-zufälligen-wunders/

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Kommentare: 2
  • #1

    Angela Busch (Donnerstag, 28 Juli 2022 20:38)

    Liebe Petra , das Buch erscheint mir grotesk , komisch und grausam zugleich. Ich weiß grad nicht ob es mich zu sehr in negative Gedanken ziehen würde oder ob es einen Hoffnungsschimmer schenkt . Danke für die ausführliche und informative Besprechung ! LG Angela

  • #2

    Mira (Sonntag, 31 Juli 2022 18:27)

    Liebe Petra,
    ein wunderschönes und für mich ein sehr ansprechendes und einladendes Cover.
    Mich spricht auch der Inhalt total an. Ich versuche mir das Buch auditiv runter zu laden. Mache ich gleich!

    Ich grüße Dich
    Mira