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Sungs Laden

Autorin

Karin Kalisa

 

Wie es begann

Die Geschichte beginnt im Dezember mit einer „weltoffenen Woche“ in der Schule am Prenzlauer Berg. 

„Der Schulamtsleiter persönlich hatte Anfang des Jahres geschrieben, dass die Schule in Sachen Völkerverständigung nach vorne gebracht werden soll“. (vgl. S. 9)

An Minh’s Grundschule gibt es 21 Nationalitäten und jede soll ein Kulturgut vorstellen. Außer Essen darf alles mitgebracht werden.

Die Lehrer sind über diese zusätzliche Belastung interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln und eine kleine Aufführung mit den Schülern zu organisieren, wenig erfreut. Da in dieser Zeit ohnehin die Schulzeit schon voll ist mit Sonder-Aktionen wie basteln, Kekse backen, Theaterbesuche etc., beschließt man, das Ganze einfach zu halten und aus jeder Klasse die Kinder mit Migrationshintergrund zu bitten, ein Kulturgut aus ihrem Heimatland bzw. dem Heimatland der Eltern/Großeltern mitzubringen und etwas dazu zu erzählen.

 

Die hölzerne Puppe

Minh`s Vater ist nicht begeistert von der Idee. Er hat weinig Bezug zu vietnamesischem Kulturgut und sich auch nie damit befasst. Er und sein Sohn sind in Deutschland geboren und wissen von dem Land ihrer Familie nicht viel.

Sung ist ratlos. Er schickt Minh weiter zur Großmutter Hiền. 

„Sung hatte seinen Sohn zur Großmutter geschickt, als der ihn fragte, was er denn aus Vietnam zur weltoffenen Woche mitbringen könne.“  (S.13)

Minh`s Großmuttern muss nicht lange überlegen. Sie holt nach langer Zeit die hölzerne Gliederpuppe hervor, die sie damals fast als einziges Besitztum aus Vietnam mit in die DDR gebracht hat.

 

„Good Morning, Vietnaaaaaaam!“

Am nächsten Tag gehen Minh und seine Großmutter Hiền unbemerkt gemeinsam mit einer großen hölzernen Puppe zur Schule. 

Minh und Hiền setzen sich unbeachtet in die vierte Reihe auf drei Stühlen. Sie setzen die Puppe zwischen sich.

 

„Sie hielten sie an ihren Holzhänden fest und schauten konzentriert nach vorn“ (S. 17)

 

Endlich beginnt der Auftritt von Minh und Hiền mit ihrer Holzpuppe. Doch der Lärmpegel ist sehr angestiegen. Plötzlich wird es ganz still, als Hiền ohne Vorwarnung mit ihrer durchdringenden, ein bisschen rauen Stimme durch den Raum gellt:

 

„Good Morning, Vietnaaaaaaam!“

 

Blitzschnell ist es ruhig und alle schauen gebannt zur Bühne.

Hiền erzählt mithilfe von Minh und der Puppe eine Zusammenfassung ihrer eigenen Geschichte. Dies macht sie so eindrucksvoll, dass nicht nur die Schüler gebannt lauschen, sondern auch das Lehrpersonal auf sie aufmerksam wird. Die ältere Frau, Hiền, die seit Jahrzehnten im Hinterzimmer des Geschäftes lebt, das vormals ihrem Mann und nun ihrem Sohn gehört, erfährt Aufmerksamkeit. 

 

Hiền`s Geschichte

Thúy, die Puppe, ist fast hundert Jahre alt und weiß sehr viel von Vietnam. Der Krieg hat das Land geteilt. Der Süden kämpfte gegen den Norden. Die Gegensätze zwischen Nord und Süd konnten größer nicht sein. Ein kommunistischer Staat im Norden und Großgrundbesitzer im Norden

 

„»Die Leute im Süden denken, dass im Norden ein großes Gespenst den Menschen die Köpfe verdreht. Denn die Leute im Norden wollen auf einmal die Maschinen, an denen sie arbeiten, selbst besitzen, und den Acker, auf dem sie Gemüse und Reis anpflanzen, auch. Sie wollen die Maschinen und das Land nicht mehr den Reichen überlassen, die keine Freiheit geben und kein Recht. Die Leute im Süden aber denken, das war schon immer so und soll auch so bleiben, also müssen sie dieses Gespenst jagen und hetzen, bis ihm die Luft ausgeht.«" (S.22)

 

Die Leute im Süden wollten das alles so blieb wie bisher.  

 

„Nach wachsenden Spannungen zwischen dem Norden und dem Süden nehmen die USA 1964 einen fingierten Zwischenfall im Golf von Tonking zum Anlass, Nordvietnam zu bombardieren. Der Vietnam-Krieg hat begonnen.“

Quelle: https://www.planet-wissen.de/kultur/asien/vietnam/pwiegeschichtevietnams100.html

 

So begann der Krieg. Amerikanische Soldaten halfen dem Süden den Norden zu bekämpfen. Aber der Norden war am Ende stärker. Die Amerikaner wurden vertrieben. 

 

„Ein mächtiger Herrscher mit vielen Soldaten half denen, die für die Reichen waren.“ (S.23)

„Sie wüteten schrecklich, aber der Norden war stärker, und sie vertreiben die Soldaten, die von weit hergekommen waren, mit Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern. Und dann wurde das Land wieder eins, und man lebte so, wie der Norden es gewollt hatte.“ (S. 23)

 

Das Land war verwüstet und leer. Die Menschen waren arm und voller Angst. Sie machten sich auf in ein fremdes Land, wo kein Krieg war um Geld zu verdienen, dass sie nach Hause schicken konnten, damit ihre Familien Reis kaufen konnten.

Hiền erzählt aus der Zeit als sie Vertragsarbeiterin aus Vietnam war. 1980 ist sie am Flughafen Berlin Schönefeld angekommen mit ihrer Puppe. Sie gehörte zu den ersten Vertragsarbeitern innen die in die DDR einreisten. Hiền erzählt, dass sie für die Geburt ihrer Tochter nach Vietnam fliegen musste. Sie ließ ihre Tochter in einem kleinen Dorf bei Hanoi bei ihrer Schwester zurück, weil sie als vietnamesische Vertragsarbeiterin kein Kind in dem fremden Land haben durfte.

Sie flog ohne ihre Tochter wieder zurück, um Geld zu verdienen. 

 

„Die Lehrerinnen waren überarbeitet, aber nicht begriffsstutzig. Sie hatten verstanden. Keine von ihnen hatte je eine Vertragsarbeiterin aus Vietnam mit Namen gekannt, aber sie alle wussten sofort, dass diese Frau dort oben neben dem kleinen Minh eine war, eine gewesen war, „besser gesagt denn den Vertragspartner DDR gab es schon lange nicht mehr.“ (S. 25) 

 

Wer ausführliche Einblick in das Leben der vietnamesischen Vertragspartner DDR bekommen möchte, empfehle ich die Zusatzinformationen zum Buch auf unserer internen Internetseite.

 

Die Folgen des Auftritts

„Später hat sich Sung öfter gefragt, ob er nicht eine Ahnung, eine winzige Ahnung gehabt hatte, dass etwas ins Rollen kommen würde, als er seinem Sohn keine Winkekatze und kein Plastikwindrad in die Hand gedrückt, sondern ihn zu seiner Großmutter geschickt hatte, die als einziges Mitglied seines Haushalts in Vietnam aufgewachsen war und eines von diesen Kulturgütern zur Hand haben mochte. Oder wenigstens eine Idee. Sie hatte ein Kulturgut, und sie hatte eine Idee. Eigentlich war es mehr eine Eingebung als eine Idee, oder besser noch: ein Coup. Obwohl auch sie nicht wissen konnte, dass sie damit zwar nicht die Welt, aber immerhin einen beachtlichen großen Stadtteil in Berlin so verändern würde, dass er sich auf einmal selbst wiedererkannte.“  (S.14/15)

 

Im folgenden Sommer spielt der Prenzlauer Berg jedoch noch verrückter als sonst. Der Prenzlauer Berg wird auf den Kopf gestellt. Das Szene-Viertel entdeckt seinen asiatischen Teil und lässt Grenzen fallen. Brücken aus Bambus spannen sich zwischen den Häusern, Parkraumwächter tragen Kegelhüte, auf Brachflächen grünt exotisches Gemüse, und ein Zahnarzt macht Sonntagsdienst für Patienten aus Fernost. 

 

„Die Puppen machten Schule.“ (S. 81)

 

Sungs Leben

Im zweiten Teil wird auf Familiengeschichte der Sungs eingegangen. 

 

„Eine Weile später hatte auch Sung die Schule hinter sich gelassen, mit einem vierseitig gestempelten Papier, dessen Zahlenzauber auf einen Mittelwert von 1,6 zusammenstutzte.“ (S.113) 

 

Seine Lehrer waren entsetzt, als er mit diesem hervorragenden Ergebnis nur Altertumswissenschaft statt Medizin studieren wollte. 

 

Sung schaffte es, ein brillanter Archäologiestudent zu werden. Nach dem Tod seines Vaters verlässt er die Universität und verzichtet auf eine Universitätskarriere, um weiter Obst und Rätselheftchen zu verkaufen und handelt damit aus einer Logik der Familientradition heraus. 

 

Das Ende

Nachdem auf dem Dach des Bezirksamts kurzzeitig auch noch die Ho-Chi-Minh-Flagge wehte, münden die Aktionen in ein Fest, wie der Kiez noch keines erlebt hat: großes vietnamesisches Wassermarionettentheater in einem Ententeich!

 

„Nie hatte es hier eine schönere Bühne gegeben. Das Licht der Lampions spiegelte sich im Teich und verwandelte die Zelte von Outdoor-Artikeln in ein Pagodenschloss Out of Asia.“

S. (229)

 

Sprache und Stil

Die Geschichte wird in kleinen Kapiteln sehr übersichtlich erzählt. 

 

Die Aufteilung des Romans besteht aus drei Kapitel:

 

·      Einblick in das Leben von Hiền

·      Sungs Entwicklung  

·      Finale der Veränderung

 

Karin Kalisa schreibt sehr überzeugend. Ihr Schreibstil ist heiter, beschwingt. Sie schreibt kurz und knapp und damit sehr wirkungsvoll. Die Erzählung wird immer wieder von Rückblenden unterbrochen.

Das kleine Wunder entwickelt sich aus einer eindrucksvollen Marionette zu einem Protestsymbol und aus dem Protest wiederum ein Sieg der Amateure über die Berliner Bürokratie. Am Anfang ist es nur eine alte vietnamesische Holzpuppe, die in der Aula einer Grundschule Kinder und Lehrer bezaubert. Noch ahnt keiner, dass binnen eines Jahres der Prenzlauer Berg auf den Kopf gestellt werden wird. Das Szene-Viertel entdeckt seinen asiatischen Anteil und belebt seine anarchisch-kreative Seele neu.

Ein kleines Obstgeschäft wird zum Nabel eines neuen, nun vollständig wiedervereinten Berlins, welches das traurige Kapitel der ausgebeuteten DDR-Vertragsarbeiter aufarbeitet. 

Eine Grundschullehrerin im Sommerkleid, die sich in den mürrischen Marionettenbauer verliebt, ein Zahnarzt, der aus Langeweile anfängt, ehemalige Gastarbeiter unentgeltlich zu behandeln und Polizisten auf Streife lieber Mangos als Currywurst essen. 

Achtjährige wollen zu Karneval im Kostüm der Puppenspielerin gehen, woraufhin die Mütter dafür Nähkurse belegen. Plötzlich sieht man über den Prenzlauer Berg Menschen gehen, die Kegelhüten tragen.

Karin Kalisa lässt alles wie selbstverständlich sich entwickeln. Aus murrenden Zeitgenossen werden freundliche Nachbarn, aus den karrieregeilen, arroganten Vorgesetzten werden sozial eingestellte Chefs und manch einer entdeckt seine späte Berufung. 

Es werden ehrenamtliche Sprachkurse angeboten und Bambusbrücken nach vietnamesischem Vorbild gebaut, die Berliner Dächer für wenige Stunden verbinden und rechtzeitig vor Ankunft des Ordnungsamts abgebaut werden.

Vom Gemischtwarenladen des studierten Archäologen Sung nimmt all dies seinen Ausgang.

Der Stil der unterschiedlichen Episoden, den Karin Kalisa nutzt, wird durch zahlreiche Nebenhandlungen aufgegriffen, die sich nicht alle zu Ende erzählen lassen. Doch so bleibt das Bild der Geschehnisse bunt, rund und umfangreich.

Einiges bleibt offen und damit der Fantasie der Leser überlassen oder manchmal der Andeutung der Autorin.

Die Autorin schafft es, trotz der Leichtigkeit ihrer Erzählung, ein kleines Stück Geschichte der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter mit der Lebensgeschichte früherer DDR-Bürger aufzuzeigen.

 

Fazit

„Sungs Laden“ ist eine Utopie über das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen. Karin Kalisa zeigt uns, was aus ein bisschen mehr Kommunikation, weniger Bürokratie und natürlich viel Verständnis geschehen kann. 

 

„Nach den Herbstferien hatten die angefangen, in schönem Wechsel von Pellkartoffeln und Klebereis, von Würstchen mit Kraut und Hühnchen mit Curry, dazu allerhand Buntem und Frischem, die hungrigen Mäuler der Grundschule zu versorgen.“( S.246)

 

So verändert sich nach und nach das Erscheinungsbild des Viertels. Immer mehr vietnamesische Produkte tauchen auf, leichte Bambusbrücken verbinden Gebäude und verschwinden wieder, Vietnamesen lernen nach Jahren in Deutschland endlich die deutsche Sprache und immer mehr Deutsche versuchen sich im Vietnamesischen. Lange nachdem die ehemalige DDR vietnamesische Arbeiter ins Land geholt hat, wachsen nun endlich auch die Menschen ein wenig enger zusammen und beginnen, sich gegenseitig kennenzulernen und anzunehmen.

Es ist ein Buch der ruhigen Töne. Eine Utopie, natürlich! In kleinen Episoden aufgedeckt, auf die fernöstliche Art, federleicht und fernab aktueller politischer Diskurse und Realitäten.

 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Mira (Dienstag, 30 März 2021 22:07)

    Hallo, liebe Petra,
    wieder eine sehr spannende Lektüre. Ich werde mir das auditive Buch sofort herunter laden.
    Bin sehr neugierig, wie mit dieser Vielfalt an Kultur, die doch auch bereichernd sein kann, woanders in Deutschland umgegangen wird, da jeder Mensch in Wirklichkeit anders ist. Ein Vergleich mit unseren Schulen, da hier bei Kindern mit fremden Namen wie ein Stigma immer der Migrationshintergrund erwähnt und problematisiert wird, hat schon fast einen negativen Beiklang. Immer wieder Dankeschön für Deine tollen gelesenen Bücher, die eine andere Welt als die übliche widerspiegeln. Immer schön weiter mit Deinem Blog machen. Diese Bücher sind soooo wichtig für unsere Gesellschaft.
    Alles Liebe
    Grüße, Mira