Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, lebt in Berlin. 2001 erschien sein erster Gedichtband "Probebohrung im Himmel". Es folgten "Guerickes Sperling" (2004), "Achtzehn Pasteten" (2007), "Australien" (2010), "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern" (2012) und der Sammelband "Selbstporträt mit Bienenschwarm" (2016) und zuletzt "Die Life Butterlfy Show" (2018) sowie die Essaybände "Der verschlossene Raum" (2017) und "Der glückliche Augenblick" (2021). Für seinen Gedichtband "Regentonnenvariationen" (2014) gewann er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse, 2017 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

 

Quelle: https://www.hanser-literaturverlage.de/autor/jan-wagner/

Jan Wagner

botanischer garten

dabei, die worte an dich abzuwägen –

die paare schweigend auf geharkten wegen, die beete laubbedeckt, die bäume kahl,

der zäune blüten schmiedeeisern kühl,

das licht aristokratisch fahl wie wachs - sah ich am hügel gläsern das gewächs- haus, seine weißen rippen, fin de siècle,

und dachte prompt an jene walskelette,

für die man sich als kind den hals verdrehte in den museen, an unsichtbaren drähten,

daß sie zu schweben schienen, aufgehängt, an jene ungetüme, zugeschwemmt

aus urzeittiefen einem küstenstrich, erstickt an ihrem eigenen gewicht. 

* aus dem Gedichtband: Guerickes Sperling (2004)

 

hippocampus

was blieb, war nicht der halbe limoncello

von mond über neapel, nicht die suite

mit blick auf den golf; was blieb, war das verschwimmen- de licht, das gluckern hinter dicken gläsern

im meeresinstitut, die seepferdchen,

einander spiegelnd; die zwei seepferdchen,

 

jedes in seiner rüstung, beinahe gläsern,

die eher zu stehen schienen denn zu schwimmen, als lauschten sie einander, oder einer suite

von bach, wie f-löcher in einem cello.

 

aus dem Gedichtband: Regentonnenvariationen (2014)

 

giersch

nicht zu unterschätzen: der giersch

mit dem begehren schon im namen – darum

die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch

wie ein tyrannentraum.

 

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,

schickt seine kassiber

durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,

bis irgendwo erneut ein weißes wider-

 

standsnest emporschießt. hinter der garage,

beim knirschenden kies, der kirsche: giersch

als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

 

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch

schier überall sprießt, im ganzen garten giersch

sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

 

aus dem Gedichtband: Regentonnenvariationen (2014)