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Ich und Jimmy

Autorin

Clarice Lispector

 

Eckdaten [1]

Chaja Pinchassowna Lispector wird am 10. Dezember 1920 als dritte und jüngste Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine geboren. Angesichts der immer wieder aufflammenden Pogrome wanderte die Familie kurz nach ihrer Geburt nach Brasilien aus. In Brasilen wird ihr Name in Clarice Lispector geändert. Obwohl sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, gelingt ihr eine erstaunliche Karriere. Sie darf an die für Juden verbotene Eliteuniversität studieren. Ein antisemitischer Propagandaminister unterstützt sie, ihre ersten Texte zu publizieren. Nach der Heirat mit einem katholischen Diplomaten geht sie mit ihrem Mann nach Washington, Bern, Warschau, bekommt zwei Söhne und kehrt erst 1959 nach Rio de Janeiro zurück. Mittlerweile ist sie geschieden. Sie lebt zurückgezogen, doch sie schreibt und publiziert weiter bis zu ihrem Tod. 

Eine brasilianische Legende

Die Eckdaten spiegeln nur grob ihren Lebensweg, der in der Realität nicht gradlinig verlief, sondern mit Höhen und Tiefen durchzogen war. Letztendlich bleibt festzustellen, sie war eine herausragende Schriftstellerin, die trotzdem immer wieder in Vergessenheit geriet, aber in Brasilen auch nach ihrem Tod noch heute eine brasilianische Legende ist. 

 

„Die französische Schriftstellerin Hélène Cixous erklärte, Clarice Lispector sei die Person gewesen, zu der sich ein weiblicher Kafka entwickelt hätte oder »Rilke, wäre er eine jüdische, in der Ukraine geborene Brasilianerin gewesen. Oder Rimbaud, wäre er eine Mutter gewesen und fünfzig Jahre alt geworden. Oder Heidegger, wenn er hätte aufhören können, Deutscher zu sein.

« Wer diese unbeschreibliche Frau zu beschreiben versucht, greift häufig nach Superlativen, doch diejenigen, die sie entweder persönlich oder aus ihren Büchern kannten, beharren darauf, dass sich das auffälligste Merkmal ihrer Persönlichkeit, ihre Aura des Geheimnisvollen, jeglicher Beschreibung entzog. »“ [2]

 

Inhalt 

Ich und Jimmy versammelt 30 Erzählungen von insgesamt 86 erschienen Erzählungen. Es sind ausgewählte Kurzgeschichten, die einen Querschnitt der Schaffensphasen der Autorin spiegeln. 

Die Erzählungen sind chronologisch geordnet. 

 

„Sowohl in der Textgestalt als auch in der Textreihenfolge orientiert sich der Auswahlband an den oben genannten, chronologisch geordneten Editionen.“ (S. 405)

 

Sprache und Stil

Die Titelgeschichte Ich und Jimmy wurde 1944 publiziert. Die Erzählerin, eine Jurastudentin, trifft auf Jimmy. Jimmy hat seine eigenen Vorstellungen über die «Natur» des Menschen. Sie werden ein Liebespaar, weil Jimmy das richtig findet.

 

„Jimmy fand, dass nichts besser sei als die Natur. Dass, wenn zwei Menschen aneinander Gefallen finden, sie ein Liebespaar werden sollten, ganz einfach.“ (S. 5)

 

In ihrem Jurastudium folgert sie als Ergebnis der Vorlesungen und rechtsphilosophischen Schriften Hegels, dass sie nun der eigenen Natur folgen muss und lässt sich auf eine Affäre mit ihrem Prüfer ein. Für Jimmy ist Gleichberechtigung unvorstellbar. Obwohl seine Ideen mit der «Natur» verbunden sind, hat er nun kein Verständnis mehr.

 

„Nur über Jimmy Sinneswandel wunderte ich mich weiterhin. Die Theorie ist doch gut.“

(S. 11)

 

Miss Algarve berichtet von einer ungewöhnlichen Verwandlung einer Frau, die die Liebe entdeckt. Die Hauptfigur Miss Algarve ist eine altjüngferliche Londoner Büroschreibkraft. 

 

„Unverheiratet, natürlich, Jungfrau, natürlich. Sie wohnt allein in einer Dachgeschosswohnung in Soho“ (S. 302)

 

Ihre Beschäftigung besteht aus Arbeit und Gebet. Doch eines Nachts hat sie eine merkwürdige Begegnung. Sie wird durch einen geheimnisvollen Windzug, der einem Wesen gleicht, geweckt. Das Wesen nennt sich Ixtlan und ist vom Saturn gekommen, um sie zu lieben.

 

„Ixtlan trug eine Krone aus Nattern, die sich umeinander schlängelten, ganz zahm vor Angst, sterben zu können. Der Umhang, der seinen Körper bedeckte, war vom duldsamen Violett, war böses Gold und geronnenes Purpur. Er sagte: ›Zieh dich aus.‹ Sie streifte das Nachthemd ab.“ (S. 309)

 

Lispcetor nutzt eine altbekannte Überlieferung, die besagt, dass Eva im Paradies von einer Schlange verführt worden sei und wie bei Kafka findet eine Verwandlung statt. Miss Algarve wird verwandelt von einer unscheinbaren Jungfrau in eine Frau voller Tatendrang und ist bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen.

 

Die Autorin schreibt diese Erzählung mit Witz und Ironie, ein surreal anmutender Text wie bei Kafka.

 

Direkt darauf folgt die Erzählung Der Körper.

 

„Xavier war ein wüster und heißblütiger Mann. […] Er liebte Tango.“ (S. 315)

 

Xavier ist Bigamist und lebt mit zwei Frauen, Carmem und Beatriz, in wilder Ehe zusammen. Die Erzählung beginnt mit einem Film „Der letzte Tango“, denn Xavier liebt Tango. Xavier wird den beiden Frauen untreu. Das bizarre ménage à trois bekommt Risse und wie beim „Letzten Tango“ endet es tödlich. 

 

Die beiden Frauen töten ihren untreuen Liebhaber mit Messern, vergraben ihn im Garten und pflanzen auf sein Grab einen Rosenstock. Etwas später wird die Polizei durch den Sekretär auf das unerklärliche Verschwinden Xavier's aufmerksam gemacht. Doch nachdem sie die Leiche im Garten gefunden haben, lassen sie die beiden Frauen laufen.

 

„Die zwei sagten: »Vielen Dank.« Und Xavier sagte nichts. Es gab auch wirklich nichts zu sagen.“ (S. 326)

 

Clarice Lispector beobachtet präzise, beschreibt detailliert und erklärt. Sie bewertet oder beurteilt jedoch nichts. Jede Geschichte präsentiert sie mit Gelassenheit und oftmals mit einem verblüffenden Ende. Immer wieder sind es Frauen, die entweder aus der gutbürgerlichen brasilianischen Gesellschaft kommen oder dort eingeheiratet haben, denen sie Räume öffnet, um Träume, schmerzvolle und lustvolle Handlungen und Selbstfindung zuzulassen.

 

Mit interessanter Konstellation von Figuren und Ereignissen zieht Lispector den/die Leser*in in die Erzählung hinein. 

 

"Ihr war, als ratterten die Straßenbahnen durchs Zimmer, als erschütterten sie ihr Spiegelbild.“ (S. 21) 

 

Dieser Satz erinnert an den Roman „Malte“ von Rilke. Malte nimmt Geräusche der Stadt wahr, als ob „die Elektrische“ quer durch sein Zimmer fährt, so kommt es ihm vor, wenn er nachts das Fenster öffnet.

 

„Endlich saßen die Frau und die Mutter in ihrem Taxi zum Bahnhof.“ aus Familiäre Verbindungen (S. 114) oder „Heute ist der 13. Mai. Der Tag der Befreiung der Sklaven. Ein Montag. Ein Markttag. Ich habe das Transistorradio eingeschaltet. Da lief der «Donauwalzer». Ich strahlte.“ Aus Tag um Tag (S. 327) 

 

Ergänzt wird der Band Ich und Jimmy mit Anmerkungen, Einen Eingang und Ausgang finden, Nachwort und eine Editorische Notiz.

 

Fazit

Ich und Jimmy von Clarice Lispector stellt mit 30 Kurzgeschichten einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Schaffen dar.

Die Erzählungen zeigen die Seite des menschlichen Lebens, mit Höhen und Tiefen und Erwartungen, die in der kurzen Form einer Erzählung brillant geschrieben sind und sich einer anhaltenden Düsterkeit nicht entwinden können. Es gibt keine Auflösungen dieser Zustände. 

Immer wird es dem/der Leser*in überlassen, wie er/sie die Geschichte interpretiert. 

 

 

 

Quelle

  • Primär

Clarice Lispector

Ich und Jimmy

Aus dem brasilianischen Portugiesich 

von Luis Ruby

Nachwort von Teresa Präauer

Manesse Verlag 

 

  • Sekundär

[1] Benjamin Moser Clarice Lispector. Eine Biographie

Originaltitel: Why this World. A Biography of Clarice Lispector. Originalverlag: Oxford University

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter

btb Verlag, erschienen 13. Juli 2015.

[2] ebd. S. 16.

 

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Juli 2022, Buchvorstellung Clarice Lispector, Ich und Jimmy, https://www.lesenueberall.com/2022/07/11/ich-und-jimmy/

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