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Die geheimste Erinnerung der Menschen

Autor

Mohamed Mbougar Sarr wurde 1990 in Dakar als ältester von sieben Söhnen geboren. Er besuchte das Prytanée militaire in Saint-Louis. Er studierte in Frankreich Literatur und Philosophie. Sarr hat bereits drei Romane veröffentlicht, für die er u. a. mit dem Prix Stéphane-Hessel und Grand prix du roman métis ausgezeichnet wurde. Für das Werk "Die geheimste Erinnerung der Menschen", seinem ersten Werk, das auf Deutsch erscheint, erhielt er 2021 den Prix Goncourt.

 

Inhalt

Der Roman handelt von einem fiktiven Buch eines ebenso fiktiven senegalesischen Autors namens T. C. Elimane, das 1938 erschienen ist und für einen literarischen Skandal sorgte. Dann verschwand es – wie auch sein Schöpfer – wieder von der Bildfläche. Der angehende Schriftsteller Diégane Latyr Faye begibt sich auf Spurensuche. Wer war der Verfasser T.C. Elimane, der als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert wurde?  Warum wurde er rassistisch angefeindet und beschuldigt, ein Plagiat angefertigt zu haben? Sein Werk wurde vernichtet. Die Fragen kann nur der Autor selbst beantworten. Wo ist er?

 

Sprache und Stil

Der junge Schriftsteller Diégane Latyr Faye kommt aus dem Senegal nach Paris. Eigentlich muss er seine Doktorarbeit schreiben, doch er liebt das Pariser Nachtleben, trifft sich mit einem kleinen Intellektuellenzirkel aus der afrikanischen Diaspora und lebt die Literatur. 

 

„Es ging also darum, mein Opus Magnum zu schreiben, es war Juli, und ich versuchte mich schon seit einem Monat daran, als ich, unfähig, den ersten Satz zu finden, eines Nachts ins Getümmel der Pariser Straße flüchtete.“ (S. 24)

 

In einer Bar trifft er auf Siga D., eine bekannte senegalesische Schriftstellerin. Von ihr erfährt er mehr über das Kultbuch, das seit dem zweiten Weltkrieg als verschollen gilt: „Das Labyrinth des Menschlichen“ des senegalesischen Autors T.C. Elimane. 

 

„T.C. Elimane war kein Klassiker, sondern Kult.“ (S.15) 

 

Der Roman erscheint 1938 wird zunächst hochgelobt und bejubelt. Elimane erhält die Bezeichnung  „schwarzer Rimbaud“.

 

„T.C. Elimane  wurde in der Kolonie Senegal geboren. Das Labyrinth des Unmenschlichen  ist sein erstes Buch, das erste authentische Meisterwerk eines Schwarzafrikaners, der sich dem Wahnsinn und der Schönheit des Kontinents stellt und offen darüber spricht.“ (S. 38)

 

Kurz nach seinem Erscheinen wird es wieder vom Markt und aus den Bibliotheken genommen. Die anfängliche Begeisterung schlägt in Misstrauen um. Konnte so ein herausragender Text wirklich aus der Feder eines Afrikaners stammen?

 

So schnell wie T.C. Elimane erfolgreich war, geriet er in die Kritik. Ein auf Schwarzafrika spezialisierter Ethnologe kritisiert sein Werk und beschuldigt ihn, ein Plagiat geschrieben zu haben: den Ursprungsmythos einer senegalesischen Ethnie plagiiert zu haben. 

 

„Ich war lange genug bei den Bassari, um mit Sicherheit sagen zu können: Das Buch von T.C. Elimane ist die beschämende Bearbeitung einer Geschichte, die zur Kosmogonie der Bassari gehört. Die Handlung des Buches „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ beruht im Großen und Ganzen auf dem Gründungsmythus dieses Volks und streut romaneske Episoden ein. […]. Warum schreibt er, als ob diese Geschichte allein seiner Fantasie oder seinem Talent entsprungen wäre?“ (S. 98 ff.)

 

Schnell münden die Kritiken in einen rassistischen Ursprung, weil er Afrikaner ist, hat er alles geklaut aus der europäischen oder nordamerikanischen Literaturtradition. 

Es folgen weitere vernichtende Kritiken, die ihn beschuldigen, gar nicht Afrikanisch zu schreiben, und daher kann der Autor keiner aus Afrika sein. Er wird nicht der Schriftsteller, sondern das "Medienereignis eines Ausnahme-Schwarzen erkannt, eine Jahrmarktsattraktion, ein Schriftsteller wie ein Ausstellungsstück in einem Menschenzoo“. 

 

Das Buch schlägt hohe Wellen und mündet schließlich in einen literarischen Skandal. Der Vorwurf: Ein Plagiat produziert zu haben, eine Aneinanderreihung von Zitaten großer französischer Literaten. 

 

T.C. Elimane verschwand daraufhin wie vom Erdboden verschluckt und schrieb nie wieder etwas.

 

Diégane hält das Buch jedoch für ein Meisterwerk. Er ist wie gefesselt von dem Text und will mehr über den Verfasser herausfinden. Kann ein Mensch aus der Erinnerung gelöscht werden? Diégane begibt sich auf die Suche nach den Gründen des Schweigens. Seine Suche wird zu seiner Obsession, in der er immer weiter in die Tiefe eines Labyrinths hineingerät.

 

Der Weg auf die Spur des geheimnisvollen T. C. Elimane führt ihn über Jahrhunderte und Kontinente hinweg vom Senegal über Amsterdam und Paris bis in die literarischen Salons von Buenos Aires.

 

Brillant erstellt Sarr eine Collage der Suche nach dem verschollenen Autor im Labyrinth der Literatur. Er jongliert mit Fragmenten zwischen Tagebucheinträgen, Zeitungsartikeln, Interviews,  Monologen, Dialogen, mündliche Erzählungen von Familie und Freunden und poetischen und szenischen Elementen.

 

Die unterschiedlichen Fragmente der Collage setzen sich zu einem Bild zusammen, die Überraschungsmomente erzeugen, sich T.C. Elimane annähern und wieder entfernen, doch am Ende weist das Bild Lücken auf. Hinweise, die verwirren und wieder einen anderen Weg zeigen, transportieren Leerstellen. Manchmal muss man eine versteckte Andeutung finden, um zu wissen, wer gerade spricht, wenn sich die Erzählperspektive ändert. Oftmals bleibt offen, ob es die Wahrheit ist. Sarr webt in seiner Geschichte Mythen und Legenden ein, so wie in der Tradition des Senegals es noch heute vorzufinden ist. 

 

Schwarze Tradition, Kultur und weiße Herrschaft stellt der Autor Mohamed Mbougar Sarr mit seinen Figuren der Zwillinge Assane Koumakh und Ousseynou Koumakh gegenüber. Assane geht in die Schule der Weißen, doch Ousseynou bleibt in seinem Dorf und ist bereit, seine Kultur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. 

 

„Du, Assane Koumakh, wirst aufbrechen in die Welt draußen, um dort neues Wissen zu erwerben, und du, Ousseynou Koumakh, wirst hierbleiben und das Wissen unserer Welt beschützen.“ (S. 143)

 

Der Autor spannt seinen Bogen über Themen wie Glaube an Geister und schwarze Magie, die im Westen nur schwer zu verstehen sind, doch in Regionen Afrikas Realität sind. Der Literaturbetrieb Frankreich/Senegal, die rassistische Einstellung, Kolonialismus, die postkolonialen Konflikte in Westafrika mit ihren Greueltaten, die Dekolonisierung und auch die Besetzung Frankreich unter den Nazis werden in dem Roman einbezogen. Die Suche führt Diégane schließlich zurück in den Senegal. Dort gerät er in politische Unruhen, die die Instabilität des Kontinents thematisieren. 

 

Sarr schreibt leicht, humorvoll, oftmals satirisch und mit einer gehörigen Portion Selbstironie in einer kraftvollen poetischen Sprache. 

 

Seine Figuren flüstern, poltern, raunen und plötzlich öffnet sich mit einem Donnerschlag wortgewaltig eine brutale Geschichte, die langsam wieder verebbt. 

 

„Meine Mutter blieb stumm, nach eine Weile sagte der Tod: »Du hast dich entschieden, dich von uns töten zu lassen. […] Wir werden dich töten.« […]

Ich hörte noch immer alles, dabei hatte ich mir die Finger mit aller Kraft in die Ohren gesteckt. Ich hörte also das feiste Lachen der Kinder des Todes. […] Aber meine Mutter hörte ich nicht“ (S. 401)

 

Sarr macht sich über den Literaturbetrieb mit seinen Regeln und Erwartungshaltungen über Stereotype im Zusammenhang mit afrikanischen Autoren lustig. Anders sind die Todesfälle der Kritiker von Elimane nicht zu erklären. Bereits mit dem Vater von Siga D., Ousseynou, beschreibt er den Glauben an Geister und schwarze Magie. Nun sind es die Kritiker, die von der Magie eingeholt werden. Mit Humor zeigt er das Spannungsfeld zwischen Kritiker und Color People auf. 

 

 „Es wäre grauenhaft, wenn Elimane diese armen französischen Kritiker mit Hilfe seiner magischen Kräfte in den Selbstmord getrieben hätte. Allerdings würde ich in diesem Grauen, sollte es so gewesen sein, etwas sehr Komisches sehen. […] Eine finstere Komödie.“ (S. 295)

 

Fazit 

Mohamed Mbougar Sarr widmet seinen Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ Yambo Ouologuem ein Schriftsteller aus Mali, dessen Erstlingswerk »Das Gebot der Gewalt« 1968 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde. 

Schnell wurde sein Erfolg durch die Kritiker demontiert und ihm wurde vorgeworfen, ein Plagiat erstellt zu haben. Genau diesen Sachverhalt hat Sarr als Vorlage für seine Kunstfigur T.C. Elimane genommen. 

 

Ein Literaturkritiker, ein Professor für afrikanische Ethnologie, befindet, dass der Autor lediglich ein „Gründungsmythos eines Volkes“ (S. 99) nacherzählt habe. 

 

„Darin wird erzählt, wie ein König einst das Königreich der Basare gründetet. Dieser König, der grausam und blutrünstig war, verbrannte seine Feinde und manchmal die eigenen Untertanen.“ (S. 99) 

 

Diese ausführliche und andere negativen Kritiken lassen die Stimmung komplett drehen. Sarr zeigt insbesondere an dieser Stelle bitterböse Satire, die den Roman begleitet. „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ lädt zu politischen Diskussionen ein, jedoch ohne moralisch oder belehrend zu sein. 

Mohamed Mbougar Sarr hat sich für seinen fulminanten Ronan ebenso von Roberto Bolaño inspirieren lassen. Ein langes Zitat aus „Die wilden Detektive“ leitet seine fiktive Geschichte ein.  Wie ein Detektiv verfolgt sein Spiegelbild Diégane Latyr Faye die Spuren Elimanes. 

 

„Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist ein hervorragendes Buch für Leser:innen, die bereit sind, einen ungewöhnlichen Weg durch ein Labyrinth zu laufen und sich dort nur mühsam herausfinden, dann wird es ein Leseerlebnis pur, berauschend, reichhaltig und tiefgründig.

 

„Und was ist die Kehrseite des Paradieses? Eine Hypothese: Die Kehrseite des Paradieses ist nicht die Hölle, sondern die Literatur.“ (S. 88)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mohamed Mbougar Sarr

Die geheimste Erinnerung der Menschen

Aus dem Französischen von Sabine Müller und Holger Fock

Hanser Verlag, München 2022

 

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Dezember 2022, Buchvorstellung Mohamed Mbougar Sarr, Die geheimste Erinnerung der Menschen, https://www.lesenueberall.com/die-geheimste-erinnerung-der-menschen/

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